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Spielregeln für die Industrie 4.0

Von Thomas Jakl

Gastkommentare

Die rechtliche Flankierung der Digitalisierung ist für den Wirtschaftsstandort Europa essenziell.


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Der Kontakt zwischen Anbieter und Kunde ist die sensibelste Schnittstelle der europäischen Industrie. Durch sie laufen jene Informationen, die das Rückgrat für Geschäftsbeziehungen bilden. Die Stabilität dieser Verbindung ist in Gefahr. Ihr muss das Hauptaugenmerk im digitalen Zeitalter gelten.

Die Kernidee hinter den Geschäftsmodellen der US-Internetgiganten Google, Amazon und Facebook zeichnet jeweils eine direkte, unmittelbare Verbindung von einem Bedürfnis zu dessen Stillung. Die Linie von "Ich möchte eine Information" führt zu Google, jene von "Ich möchte etwas kaufen" zu Amazon und jene von "Ich möchte mich austauschen" zu Facebook. Das US-Biotop lässt nicht nur zu, dass solche in ihrer Unmittelbarkeit genialen Geschäftsideen entstehen, sondern dass sie auch umgesetzt werden können.

Die digitale Revolution verlief jedoch zu rasch, als dass das US-Rechtssystem, basierend auf einer Kombination aus Haftungsregeln und Einzelfallentscheidungen, die notwendigen Rahmenbedingungen für Datensicherheit und Datenschutz etablieren hätte können. Selbst Facebook-Gründer Mark Zuckerberg räumte während seines Hearings vor dem US-Kongress im vergangenen Frühjahr ein, dass sein Konzern mit der Erfüllung der Vorgaben der EU-Datenschutzgrundverordnung auch US-Bürgern das gleiche Schutzniveau wie europäischen Nutzern zusichern werde. Es wird eine Kernaufgabe vornehmlich des europäischen Rechtssystems sein, die digitale Transformation zu begleiten. Ähnlich wie im Produktrecht (man denke zum Beispiel an die EU-Chemikalienverordnung Reach) wird dem EU-Recht hier globale Bedeutung zukommen.

Schnittstelle zwischen Anbieter und Kunde als Herzstück

Gleichzeitig ist die rechtliche Flankierung der Digitalisierung für den Industriestandort Europa von essenzieller Bedeutung. Das strategische Consulting-Unternehmen Roland Berger betont in der für den Bundesverband der deutschen Industrie (BDI) erstellten neuen Studie "Die digitale Transformation der Industrie" sinngemäß: "Die digitale Transformation verschiebt die Wertschöpfung im produzierenden Gewerbe zugunsten einfacher, standardisierter IT-Lösungen. Neue Anbieter drohen die Industrie von der Schnittstelle zum Kunden zu verdrängen. Ein Szenario, das die starke Stellung der europäischen Industrie bedroht."

Big Data macht mehr Wissen um Aufgaben, Stärken und Schwächen aller Glieder in der Wertschöpfungskette allgemein verfügbar. Daten zu Warenströmen, Produktspezifikationen, Kundenfeedback etc. werden durch intelligente Algorithmen zu einem Bild verwoben, dass dann nicht mehr exklusiv den eigentlichen Geschäftspartnern zur Verfügung steht. Zwar haben zahlreiche Branchen darauf analog reagiert und das Verhältnis zwischen Anbieter und Kunde gestärkt, indem etwa nicht mehr Produkte, sondern die Leistung der Produkte zur Basis des Geschäftsmodells wurden. So bieten zum Beispiel Lackhersteller heute oft nicht einfach Lacke an, sondern werden "pro lackiertes Produkt" entlohnt. Reinigungsmittelproduzenten erhalten von ihren Kunden das Entgelt "pro Quadratmeter gereinigter Fläche" oder "pro gereinigtes Wäschestück". Energieversorger verkaufen nicht bloß Strom, sondern Energiedienstleistungen (Wärme, Licht).

Digitalisierung bringt auch neue Geschäftsmodelle

Derartige dienstleistungsorientierte Geschäftsmodelle erhöhen nicht nur die Ressourceneffizienz (auch für den Hersteller wird es so profitabler, die angebotene Leistung mit weniger an Produkt abzusetzen), sondern führen auch zu einer intensiveren Bindung zwischen Anbieter und Kunde. Das in Österreich entwickelte und mit der Organisation der Vereinten Nationen für industrielle Entwicklung (Unido) weltweit umgesetzte Modell "Chemical Leasing" belegte diese Stärkung der Kundenschnittstelle in hunderten Anwendungen in dutzenden Branchen weltweit eindeutig.

Im Zeitalter von Industrie 4.0 müssen Unternehmen jedoch zusätzlich ihre digitale Reife und Kompetenz stärken, und auch industrielle Standards, Normen und rechtliche Instrumente werden sich dem digitalen Zeitalter verstärkt öffnen müssen, um den Unternehmen berechenbare, belastbare Rahmenbedingungen zu sichern. So stellt Roland Berger in seiner Studie für den BDI fest: "Es gilt, einen neu austarierten, einheitlichen ordnungspolitischen Rahmen zu setzen. Ein konkreter nächster Schritt für Europas Unternehmen und Politik ist die offensive Auseinandersetzung mit der Standardisierung der digitalen Wirtschaft."

Das erwähnte Beispiel der Übernahmen von EU-Datenschutzstandards durch Facebook zeigt, dass Europa die Chance hat, einen weltweiten Standard für die digitalen Elemente des Wirtschaftslebens zu setzen. Und zwar durchaus zum Vorteil des Wirtschaftsstandorts Europa, wie etwa auch Infineon-Chef Reinhard Ploss meint: "Europa ist in der Lage, als Systemarchitekt seine eigene Backbone-Struktur zu schaffen. Jetzt geht es darum, branchenübergreifend und in enger Zusammenarbeit mit den Behörden EU-weite Standards und Gesetze voranzutreiben."

Auch Künstliche Intelligenz muss erfasst werden

Gegenstand des zukünftigen Instrumentariums wird es einerseits sein, den Informationsaustausch zwischen Anbietern und Kunden qualitätsgesichert ablaufen zu lassen und ein ausreichend hohes Schutzniveau für geistiges Eigentum sowie Geschäfts- und Betriebsgeheimnisse sicherzustellen. Im Fokus werden aber auch die Algorithmen stehen, mit deren Hilfe Informationen verknüpft werden und die auf Grund ihrer Lernfähigkeit eigene Abfragemuster und Auswertungsmodelle entwickeln. Wenn der Facebook-Gründer (ebenfalls im Zuge des Kongress-Hearings) einräumt, er verstehe selbst nicht mehr, wie das Soziale Netzwerk von seinen Algorithmen weiterentwickelt werde, oder die Masterminds hinter dem bahnbrechenden Übersetzungsprogramm "DeepL2" (im Interview mit dem "Spiegel") die undurchsichtige Eigendynamik hinter der Künstlichen Intelligenz ihrer Schöpfung einräumen, wird der Handlungsbedarf offensichtlich.

Die Bertelsmann-Stiftung führt zurzeit ein Projekt mit dem Titel "Ethik der Algorithmen" durch, innerhalb dessen sich die Politikwissenschafterin Carla Hustedt mit der Frage auseinandersetzt, wie die Zielrichtung eines rechtlichen Rahmens für Algorithmen aussehen könnte. Sie meint: "Es bedarf verlässlicher Kontrollen für Algorithmen." Betroffene (das sind meines Erachtens sowohl Menschen als auch Unternehmen) müssten informiert werden, wenn Maschinen über sie urteilen, und unbürokratisch nachvollziehen können, wie Entscheidungen zustande kommen. "Kontrolle heißt auch", so Hustedt, "dass diskriminierende Entscheidungssysteme verboten werden können. Der politische Ort dafür ist die Europäische Union. Die Datenschutz-Grundverordnung hat - bei aller Diskussion im Detail - gezeigt, dass eine kraftvolle Regulierung aus Brüssel möglich ist."

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