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Spieltheoretiker und der große Sprung über den Schatten

Von Hans Bürger

Analysen

Der Mensch verhält sich anders, als die Ökonomen glauben: nämlich irrational.


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Ein Mensch, noch dazu ein Österreicher, hat im Sprung die Schallmauer durchbrochen - Red Bull, Sponsor des Spektakels, hätte den Marketing-Nobelpreis verdient, wenn es ihn denn gäbe.

Zwei Spieltheoretiker, die beiden US-Ökonomen Alvin Roth and Lloyd Shapley, sind auch Gambler - so wie Felix Baumgartner. Und sie bekommen in diesem Jahr den Wirtschaftsnobelpreis - der eigentlich keiner ist und den doch alle so nennen. Die beiden stellten sich die Frage: Wie funktionieren Märkte effizient? Wie bringt man die Markt-Teilnehmer am besten zusammen?

Auf den Märkten, das vergessen Ökonomen manchmal, agieren Menschen. Was ist mit der Ökonomie los? Der Streit zwischen "Alt" und "Neu" könnte derzeit heftiger gar nicht sein.

Im Grunde geht es nach wie vor um die Frage: Gleichgewicht oder Ungleichgewicht? Und man glaubt es kaum: Auch nach fast 250 Jahren lehren die meisten Nationalökonomen dieser Welt - so als hätten sich die Weltwirtschaftskrisen der 1930er Jahre und ab 2008/2009 einfach nicht ereignet -, dass sich die Märkte stets im Gleichgewicht halten. Güter. Arbeit. Finanzmarkt. Flexible Preise, Löhne, Zinssätze, Wertpapierkurse werden das schon regeln. Gift sei nur die Intervention.

Sobald sich Politik und Staat einmischten, kämen die Märkte ins Trudeln und die automatischen Wirkkräfte des Marktes müssten ja versagen.

Grundlage dieses Denkens ist der homo oeconomicus. Er hat sich immer im Griff. Gibt nie mehr Geld aus, als er einnimmt. Hat keinerlei Neidgefühle gegenüber seinem Nachbarn oder gegenüber seinem Arbeitskollegen. Er vergleicht Preise, bevor er etwas kauft, und fährt dann dorthin, wo er das Produkt am günstigsten von allen bekommt. Er fährt öffentlich, wenn er sich zuvor ausgerechnet hat, dass ihn der Weg per Auto mehr kostet. Alle Zusatzkosten werden mit einkalkuliert. Er wechselt sofort den Stromanbieter, wenn ein attraktiverer Konzern auf den Plan tritt. Und selbstverständlich lässt er sich nie und nimmer von Aktienbooms an der Börse mitreißen und kauft vielleicht überteuerte Wertpapiere.

Ja, genauso ist er, der Mensch. Sagen die meisten Ökonomen. Und da sie die Kritik der Ungleichgewichtstheoretiker kennen, fügen sie mittlerweile gerne dazu: Natürlich sei kein Mensch wirklich so, aber im Schnitt, oder sagen wir, als Recheneinheit, sehr wohl. Ein dauerkalkulierendes Wesen, stets auf seinen Kostenvorteil bedacht, egal, ob er nun Arbeiter oder Unternehmer ist.

Hans Bürger.
© D. Klemencic

Schluss damit!, sagen seit den 1980er Jahren die sogenannten Verhaltensökonomen. Leider sehr verhalten. Oder wollte man es an den Wirtschaftsuniversitäten dieser Welt einfach nicht hören, dass mittlerweile zehntausende Experimente mit "echten" Menschen stattgefunden haben, in denen "bewiesen" worden ist, dass der Homo sapiens vollkommen anders tickt, als im Modell angenommen. Schade, dass man Experten wie Daniel Kahneman, Robert Shiller oder Richard Thaler nicht zugehört hat, denn sie hatten die zweite Weltwirtschaftskrise prognostiziert. Nur hat man ihnen nicht geglaubt.

Doch überprüfen Sie sich anhand eines Beispiels aus der Spieltheorie, der Wurzel der Verhaltensökonomie, selbst.

Jemand vergibt hundert Dollar an einen Teilnehmer des Experiments mit der Bedingung, er könne den Betrag nur dann zum Teil behalten, wenn er den anderen Teil einem zweiten Mitspieler gibt. Lehnt dieser den Betrag jedoch ab, bekommen beide nichts. Was würde ein stets kalkulierender Egoist tun (homo oeconomicus)? Er würde wohl einen Dollar hergeben, damit er 99 Dollar behalten kann.

Was aber haben die realen Teilnehmer in diesem Experiment gemacht? Das Gegenteil. Fast alle Teilnehmer dieses Experiments haben 50 Dollar hergegeben. Aus Fairness? Kalkül? Aus welchen Beweggründen auch immer, die meisten Teilnehmer wollten schlicht nicht, dass der andere Mitspieler die Summe ablehnt, weil sie ihm als zu gering erschien. Denn dann wären sie selbst ebenfalls leer ausgestiegen. Die Beweggründe waren mehr einer klaren Strategie als einem vagen Gerechtigkeitsgefühl geschuldet.

Mittlerweile sind derartige Experimente dermaßen ausgefeilt, dass sogar die Hirnströme gemessen werden können, die den jeweiligen Entscheidungen zugrunde liegen. Diese Neuroökonomie ist eine der jüngsten Wissenschaften, aber sie nimmt in den wissenschaftlichen Journalen von den USA bis Europa einen rasanten Aufstieg. Der Mensch ist auch mehr als nur Wirtschaft. Seit 2010 kann in Deutschland auch "PPE", "Philosophie, Politik und Ökonomik" studiert werden. "Neue Ökonomie" muss sich nur trauen: Muss ja nicht gleich die Schallmauer sein. Über den eigenen Schatten zu springen würde vorerst schon genügen.

Zum Buch

Hans Bürger: Der vergessene Mensch in der Wirtschaft. "Der Mensch ist nicht für die Wirtschaft da, sondern die

Wirtschaft für den Menschen", lautet das Credo des Buches des ORF-Journalisten und Ökonomen Hans Bürger. Das Buch erscheint dieser Tage im Braumüller-Verlag. 21,90 ‚