Zum Hauptinhalt springen

Spießrutenlauf mit Tross und Wagen

Von Michael Schmölzer

Politik

Bis Ende 2012 sollen 30.000 Mann | Afghanistan verlassen haben.


Hinweis: Der Inhalt dieser Seite wurde vor 12 Jahren in der Wiener Zeitung veröffentlicht. Hier geht's zu unseren neuen Inhalten.

Berlin/Kabul/Washington. Von jetzt an geht es Schlag auf Schlag: Der Abzug der Afghanistan-Schutztruppe läuft auf Hochtouren, bis Ende September wird die Zahl der Soldaten von 129.000 auf 111.000 sinken; zu Jahresende sollen es dann weniger als 100.000 Militärs sein, die am Hindukusch Dienst tun. Damit wäre die Truppenaufstockung, die US-Präsident Barack Obama 2009 durchgesetzt hat, wieder rückgängig gemacht. Bis Ende 2014 wird der große Exodus dann perfekt sein: Das hat der wahlkämpfende US-Präsident versprochen. Der Demokrat wird alles tun, um diese Zusage im Fall eines Sieges gegen seinen Widersacher Mitt Romney zu halten.

Den Nicht-Nato-Ländern, die Truppen an den Hindukusch geschickt haben, kann der Abzug ebenfalls nicht rasch genug gehen. Neuseeland etwa hat jetzt angekündigt, seine Soldaten schon im April 2013 - ein halbes Jahr früher als geplant - abziehen zu wollen. Die Australier, die 1550 Mann in der Region Uruzgan stationiert und Verluste erlitten haben, blasen ebenfalls zum Rückzug.

Dabei ist schon jetzt klar, dass es einen vollständigen Abzug nicht geben wird. In den Planungsstäben der Nato zerbrechen sich die Strategen dieser Tage die Köpfe, wie viele Soldaten man über 2015 hinaus brauchen wird. Der Befehlshaber des operativen Nato-Hauptquartiers im holländischen Brunssum, General Wolf-Dieter Langheld, rechnet bereits fix mit einer "Anschluss-Mission und entsprechendem Mandat". Für die innere Sicherheit des Landes sind diese Soldaten nicht mehr zuständig. Denn bis dahin soll die afghanische Armee das Kommando im ganzen Land übernommen haben - schon jetzt sind einige Regionen unter einheimischer Kontrolle.

Warten auf Entscheidung

Den Verbleib am Hindukusch befehlen können die Nato-Militärs nicht - sie sind auf die Politik angewiesen. Dort steht eine Entscheidung aus, diese wird wohl nicht vor der zweiten Jahreshälfte 2013 fallen. Schon im Vorfeld ist klar, dass die USA einige tausend Militärberater im Land belassen wollen, die Briten einige hundert. Dazu könnten bewaffnete Kräfte kommen, die die Sicherheit dieser Berater gewährleisten. Die genaue Zahl richtet sich danach, ob es der 350.000 Mann starken afghanischen Armee gelingt, die Taliban effektiv in Schach zu halten.

Derzeit sprechen viele Indizien dafür, dass dem nicht so ist. Die Islamisten haben die Streitkräfte überall infiltriert, Berichte über Koranverbrennungen und die Schändung gefallener Taliban durch GIs bringen immer mehr afghanische Soldaten dazu, ihre Waffe gegen die Verbündeten zu richten. Dazu kommt, dass die Behörden - die Armee eingeschlossen - enorm korrupt sind. Einsatzpläne der Streitkräfte werden regelmäßig an die Taliban verraten, Hilfsgelder verschwinden in dunklen Kanälen. Dessen ungeachtet wollen die USA auch nach 2015 enorme Summen in das Land pumpen. Bis 2017 sollen die Zahlungen zumindest auf dem Niveau des vergangenen Jahrzehnts bleiben.

Der Abzug aus Afghanistan stellt die Nato vor erhebliche technische Herausforderungen. 200.000 Container müssen aus dem Land gebracht, 600 Stützpunkte demontiert werden. Einige Militärbasen sollen der afghanischen Armee überlassen werden, die Mehrheit will man schleifen. Laut "Washington Post" hat eine US-Firma bereits einen 57 Millionen Dollar (46,5 Millionen Euro) schweren Vertrag erhalten, um das Abwracken der Anlagen zu organisieren. In der deutschen Bundeswehr geht man davon aus, dass viele Tonnen an Material in Afghanistan bleiben werden, weil sich ein Rücktransport nicht lohnt. Die Gefahr ist, dass das Gerät schlussendlich den Taliban, die in elf Jahren Krieg nicht besiegt werden konnten, in die Hände fällt. Kopfzerbrechen bereitet den Generalstäblern im niederländischen Brunssum auch Pakistan: Islamabad sperrt immer wieder die Nachschubwege, was den Abzug verkompliziert.

Sowjet-Fiasko 1988

Die Geschichte lehrt, dass ein Rückzug aus Afghanistan nicht ungefährlich ist. "Ein Truppenabzug ist eine der schwierigsten militärischen Operationen. Eine Garantie, dass das ohne Verluste abgeht, gibt es nicht", sagt der deutsche General Langheld. Abschreckendes Beispiel ist die Sowjetunion, die im Mai 1988 ihre Truppen aus dem Land holte. Die Soldaten wurden prompt von Mudschaheddin angegriffen und in blutige Kämpfe verwickelt. Das Fiasko, in das die Sowjets gerieten, wird eindrücklich in dem sowjetisch-italienischen Kriegsdrama "Afghan Breakdown" geschildert, das 1991 erstmals in Frankreich gezeigt wurde. In der derzeitigen Situation besteht jedenfalls die Möglichkeit, dass die Taliban den Abzug durch Anschläge zu einem Spießrutenlauf machen und die Regierung in Kabul die Kontrolle verliert.