Das Flüchtlingsabkommen der EU mit der Türkei verstößt nicht gegen Europas Grundwerte, sondern erfüllt Hilfspflicht für Hilflose.
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Gegen das Flüchtlingsabkommen der EU mit der Türkei wettert Kritik, die EU gebe damit rechtsstaatliche Werte preis. Dagegen setzte Kanzlerin Angela Merkel die "Erwartung", dass die Türkei für massive EU-Hilfe nun demokratische Reformen angehe und Pressefreiheit gewähre.
Eben erst unterwarf Präsident Recep Tayyip Erdogan die kritische türkische Zeitung "Zaman" staatlicher Kontrolle. Die Medien zu zäumen geht mit Paragraf 299 des türkischen Strafgesetzbuches einfach: bis zu vier Jahre Haft für "Beleidigung des Präsidenten". Deshalb bekamen bereits 1850 türkische Journalisten Probleme in einem Land, das auf der Weltliste der Pressefreiheit Platz 149 unter 180 Staaten hält - hinter Simbabwe oder Afghanistan.
Im November wurden zwei prominente Journalisten verhaftet, die Waffenhilfe des türkischen Geheimdienstes für syrische Rebellen aufgedeckt hatten. Im Februar setzte das Verfassungsgericht sie unter Verweis auf Meinungs- und Pressefreiheit frei. Erdogan bestritt das Waffengeschäft gar nicht, nannte aber dessen Aufdeckung Spionage, die als Verbrechen zu bestrafen sei. Deshalb wird beiden nun der Prozess wegen Spionage gemacht. Also ist Spionage strafbar, das aufgedeckte illegale Waffengeschäft aber nicht.
Seit Jahrzehnten kämpfen die Kurden um ethnische und politische Autonomie in der straff zentralistischen Türkei - auch mit Gewalt, weshalb die PKK als Terrororganisation verboten wurde. Aus der Einsicht beider Seiten, dass der Konflikt militärisch unlösbar sei, ließ sich Erdogan 2003 auf Verhandlungen mit den Kurden ein, die immerhin ein Fünftel der türkischen Bevölkerung ausmachen. Nach mehrjähriger, aber fruchtloser Pause begannen wieder PKK-Terror "von unten" und Staatsterror "von oben". Jetzt schickt Erdogan Bomber und Panzer gegen kurdische Städte und Zivilisten. Türkische Bomber greifen sogar Stellungen der kurdischen Peschmerga in Syrien an, obschon diese erstaunliche Erfolge gegen den IS erfochten haben.
Vor dieser Szene schlossen EU und Türkei ihr Abkommen: Griechenland schickt illegale Flüchtlinge in die Türkei zurück, der die EU dafür 72.000 legale syrische Flüchtlinge abnimmt; die Türkei erhält von der EU 6 Milliarden Euro zur Betreuung von 2,5 Millionen syrischen Flüchtlingen sowie die langersehnte Visafreiheit für ganz Europa, wenn sie bis Juni alle Abmachungen erfüllt. Für Euromilliarden schultert die Türkei die Last von 2,5 Millionen Flüchtlingen, während die EU die westliche Balkanroute versperrt hat. Österreichs Innenministerin Johanna Mikl-Leitner will auch die Ostroute blockieren und jene "Festung Europa" bauen, von der sie schon im Oktober sprach. Mit diesem Begriff bereicherte die Ministerin eines Rechtsstaates das Kampfvokabular der Pegida, die im Jänner mit Rechtspopulisten aus zehn Ländern den Bau einer "Festung Europa" gegen die islamische "Unterwerfung Europas" vereinbarte. Ein beklemmender verbaler Gleichklang.
Worum geht es? Weder um eine "Festung Europa" noch um Kurden oder Verhandlungen mit Erdogan, sondern um die Flucht von Millionen Unschuldigen vor Krieg und Tod. Da zwingen die vielzitierten ethischen Werte Europas zu bedingungsloser Hilfe für Hilflose. Deshalb müsste man selbst mit dem Teufel verhandeln, um arme Teufel zu retten.