Der Anschlag auf einen Ex-Agenten hat die britische Stadt Salisbury aufgeschreckt.
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Salisbury. Schon ein paar Kilometer vor der Stadtgrenze drängt ein dumpf rumpelnder Armeekonvoi auf der Landstraße Privatfahrzeuge unsanft zur Seite. Polizisten auf Motorrädern begleiten die Schwertransporter, auf denen ein Sortiment von Streifen- und Rettungswagen aus Salisbury abgeschleppt wird, in Planen gehüllt und unter akutem Verseuchungsverdacht.
Ganz in der Nähe, im militärischen Forschungszentrum von Porton Down, sollen Experten der Streitkräfte die Fahrzeuge unter die Lupe nehmen. Das Nervengas, mit dem eine Woche zuvor Sergej Skripal und seine Tochter Julia im Zentrum von Salisbury attackiert worden waren, hat Behörden und Bevölkerung in dieser sonst so friedlichen Ecke Englands gleichermaßen aufgestört.
Die ganze Stadt fragt sich mittlerweile, was für ein Unheil da über sie hereingebrochen ist. Am örtlichen Friedhof sind gleich drei Einsatzwagen der Polizei hintereinander am Straßenrand geparkt. Von der Straße aus sind die blau-weißen Absperrstreifen und das Zelt drinnen zu erkennen, die der Öffentlichkeit den Zugang zu zwei Gräbern auf dem Waldfriedhof verwehren. Hier sind 2012 Skripals Frau Ludmilla und im Vorjahr Julias in Russland gestorbener Bruder Alexander bestattet worden. Zwei Polizeibeamte in ihren gelben Regenjacken halten unter einem Baum in der Nähe Wache.
Ein Nachbar ist aus seinem Haus, auf der anderen Seite der Straße, getreten, um vor der Tür eine Zigarette zu rauchen. "So eine Unruhe haben wir hier noch nie gehabt", brummt der Mann. "Ausgegraben haben sie bisher noch nichts. Aber wer weiß, was als Nächstes kommt?"
Das ist eine Frage, die vielen Bewohnern Salisburys auf der Zunge liegt. Der mysteriöse Anschlag auf den 66-jährigen russischen Ex-Spion und seine 33-jährige Tochter zieht immer weitere Kreise, seit bekannt geworden ist, dass eine "ungewöhnliche" Art von Nervengas als Waffe benutzt wurde - und dass Spuren dieses Gases an allen möglichen Plätzen in Salisbury gefunden worden sind.
"Vorbeugende Maßnahme"
Äußerst unangenehme Gefühle hat der jüngste Appell der Gesundheitsbehörden an die Bevölkerung der Stadt ausgelöst. Dame Sally Davies, die oberste Gesundheitsbeamtin der Regierung, erklärte am Wochenende überraschend, wer sich am Sonntag oder Montag voriger Woche im Restaurant "Zizzis" oder im nahen Mühlen-Pub Salisburys aufgehalten habe, solle die dort getragenen Kleider jetzt besser waschen und sonstige mitgebrachte Gegenstände - von Handtaschen und Schmuck bis zu Brillen und Mobiltelefonen - gründlich abtupfen. Und die zum Tupfen benutzten Tücher vorsichtig entsorgen.
Das Ganze, meinte Sally, sei nur "eine vorbeugende Maßnahme". Für die 500 Personen, die man im Blick habe, sei das Gesundheitsrisiko jedenfalls "gering". Falls aber doch Nervengas-Reste sich irgendwo erhalten hätten, sei es zweifellos besser, wochenlangen Kontakt selbst winziger Spuren mit der Haut zu verhindern. Die Warnung kam, als bei "Zizzis" und im "Bishops-Mill"-Pub an den Tischen, an denen die Skripals saßen, solche Spuren entdeckt wurden. Der Sender BBC, nicht die Regierung, enthüllte den Fund.
Generell hat dieser späte Appell der Gesundheitsverantwortlichen zu Konsternation und Zorn in Salisbury geführt. Viele Bürger wüssten gern, warum das Pub und das Restaurant noch den ganzen Montag lang offen waren, nachdem die merkwürdigen Umstände des Anschlags schon Sonntag deutlich wurden. Empörung herrscht auch darüber, dass es eine volle Woche dauerte, bis Dame Sally ihre Sicherheitsempfehlungen aussprach.
"Was soll man davon halten?", fragt eine Gruppe junger Leute an der Bar des "King’s Head Inn", die der Ansicht sind, man könne "niemandem trauen" bei dieser Geschichte. "Vor Tagen schon hat man gewusst, dass 21 Leute sich mit allen möglichen Symptomen behandeln lassen mussten. Wie viel Schaden hat dieses Nervengas wirklich angerichtet?"
John Glen, der konservative Unterhaus-Abgeordnete für Salisbury, wehrt sich gegen solches Misstrauen. Er sei, hat Glen erklärt, "absolut überzeugt" davon, dass die Bewohner der Stadt "sicher" seien. Allerdings weiß auch der Tory-Parlamentarier, dass es in Salisbury brodelt: "Das Ganze ist beunruhigend. Es ist verwirrend."
Immerhin sind, wie Glen einräumt, "sieben Geschäfte und ein paar andere Lokalitäten" polizeilich geschlossen worden, während die Nachforschungen anhalten.
Ein kleiner Durchgang am Mühlbach führt zu einem begrünten Gelände zwischen den Supermärkten des Zentrums, auf dem ein paar Parkbänke Konsumenten zum Verschnaufen einladen. Hier, auf einer dieser Bänke, sind die Skripals gefunden worden, starr und bewusstlos am vorletzten Sonntagnachmittag.
Keine Berühmtheit im Ort
Auch hier, wo nun seit Tagen eine blau-weiße, vom Wind aufgebauschte Zeltplane den Fundort der Opfer markiert, ist weiträumig abgesperrt worden. Argwöhnisch kommt ein Polizist angeschlendert, wenn man sich zu weit nach vorn wagt.
Die meisten Einheimischen gehen, in der Hoffnung auf baldige Rückkehr zu einem gewissen Maß an Normalität einfach ihren Einkäufen nach oder trinken in einer der Café-Ketten ihre Latte. Dass ihre sonst eher gemächlich pulsierende Stadt plötzlich zur Szenerie eines Spionage-Dramas von nationalem und internationalem Interesse geworden ist, kommt vielen noch immer unfassbar vor.
"Wir hatten ja keine Ahnung, dass dieser Sergej Skripal hier mitten unter uns wohnte", erklären die jungen Trinker im "King’s Head Inn". Skripal, ein Oberst des russischen Militärgeheimdienstes, der für London spionierte und 2010 im Zuge eines Austauschs von Spionen nach England kam und sich in Salisbury ansiedelte, war im Ort keine Berühmtheit. Nur einige Nachbarn in Christie Miller Road, in einem Neubau-Gebiet im Nordwesten der Stadt, wussten, mit wem sie es zu tun hatten.