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Palästinenser in Jerusalem nach israelischem "Racheprotest" tot aufgefunden.
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Tel Aviv. Eine Welle tragischer Ereignisse lässt die Fronten zwischen Israel und Palästina derzeit mit voller Wucht aufeinanderprallen. Nachdem am Dienstag die Leichen der drei entführten Israelis beigesetzt wurden, entdeckte die israelische Polizei am Mittwoch einen weiteren Leichnam. Diesmal war es ein Palästinenser, der offenbar in einer Racheaktion von Israelis verschleppt und tot in den Jerusalemer Wald geworfen wurde.
In der Nacht auf Mittwoch hatten hunderte rechte Israelis in einem "Racheprotest" in Jerusalem förmlich Jagd auf Araber gemacht. Der Slogan, mit dem sich der Mob gehör verschaffte: "Tod den Arabern!" In ihrem Streifzug durch die Stadt ließen die Demonstranten ihre Wut an arabischen Passanten aus und versuchten die Filiale einer Fastfood-Kette zu stürmen, in der bekanntermaßen Palästinenser beschäftigt sind. Der Marsch endete in gewalttätigen Auseinandersetzungen mit der Polizei und 50 Festnahmen. Wenige Stunden danach ging bei der Polizei in Jerusalem ein Anruf ein, dass ein Palästinenser in Ostjerusalem in ein Auto gezerrt wurde.
So war es nach dem Fund der Leiche nicht mehr schwierig, eins und eins zusammenzuzählen, auch wenn die Identität der Leiche vorerst unbestätigt blieb. Doch auf diese Bestätigung warteten Palästinenser in Ostjerusalem nicht mehr: Nachdem sich Hunderte beim Haus des vermissten Jugendlichen versammelt hatten, lieferten sich Aktivisten mit Steinschleudern und Rohrbomben eine Straßenschlacht mit israelischen Sicherheitskräften, die teils mit scharfer Munition antworteten.
Ressentiments gegen Araber
"Beide Seiten sind in Ausschreitungen verwickelt. Die Straßen sind gesperrt, die Stadtbahn fährt nicht, Haltestellen wurden verwüstet", berichtet die Palästinenserin Amanda Massis. "Die Lage ist beängstigend und erschöpfend." Für Massis und viele andere Palästinenser waren die vergangenen Tage von laufender Konfrontation gekennzeichnet. Indem jüdische Israelis in der Trauer um die Getöteten eine neue Form nationaler Einheit fanden, richtete sich der Zorn schnell gegen die Pauschalkategorie "Araber". Massis arbeitet als Verkäuferin in einem Edelsteingeschäft und erzählt, dass ihre jüdischen Kolleginnen kein Geheimnis aus ihrer "Freude über den getöteten Palästinenser" machten.
So werden die aktuellen Entwicklungen zur Projektionsfläche für Ressentiments und Feindbilder in den ohnehin sehr fragilen Beziehungen zwischen Palästinensern und jüdischen Israelis. Das schlägt sich einerseits im Alltag nieder. Andererseits aber auch in Sozialen Medien, wo ein bitterer Krieg um die Definitionsmacht über die rasanten Entwicklungen tobt.
Auf Facebook ist bereits eine Grafik im Umlauf, die den Vermissten und mutmaßlich ermordeten Palästinenser als "Märtyrer" handelt. Darunter steht: "Israel ist die Terroristennation." Auf der anderen Seite des Grabenkampfes hat eine Facebook-Gruppe mit dem Titel "Die Nation Israel fordert Rache" schon mehr als 32.600 Unterstützungserklärungen. Viele der dort gefallenen Kommentare sollten vermutlich nicht straffrei bleiben, wie etwa der Aufruf, "alle Araber abzuschlachten".
Die aufgehetzte Stimmungslage gibt der israelischen Armee viel Handlungsfreiheit darin, den Mord an drei jüdischen Staatsbürgern mit eiserner Faust zu vergelten. Vierhundert Festnahmen, zweitausend Hausdurchsuchungen, die Sprengung der Familienhäuser verdächtiger Hamas-Aktivisten sowie Luftangriffe auf Hamas-Ziele im Gazastreifen: Es ist die größte Operation gegen die Islamitische Widerstandsbewegung (Hamas) seit der Zweiten Intifada vor mehr als zehn Jahren. Gleichzeitig wurden wieder Raketen aus dem Gazastreifen gefeuert.
"Die Hamas wird zahlen", versprach Premier Netanyahu. Diese politischen Prophezeiungen und die wachsenden Rachegelüste der israelischen Rechten halten sich gegenseitig am Leben und schaffen einen gefährlichen Nährboden. Auf diesem scheint plötzlich alles möglich, inklusive einer Ausweitung einer israelischen "Suchaktion", die jedoch immer mehr nach kollektiver Bestrafung von Teilen der palästinensischen Bevölkerung aussieht. Dabei werden nicht nur die Hamas, sondern ganze Großfamilien verantwortlich gezeichnet.
Dass der Mörder des tot aufgefundenen Palästinensers noch nicht offiziell bekannt ist, sollte auch daran erinnern, dass die laufenden Vergeltungsoperationen für den Tod dreier Israelis ebenso in Reaktion auf einen Mord passieren, dessen eigentliche Täter ebenso wenig nachvollziehbar identifiziert, angeklagt oder gar verurteilt wurden.