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Sport als patriotischer Kraftakt

Von Stefan Fuhr

Wissen

Die Bewegung, die er ins Leben rief, kannte keine sozialen Schranken: Am Barren und am Reck waren Standesunterschiede aufgehoben, mühten sich Adlige und Bürgerliche gleichermaßen ab. Zu Lebzeiten war Friedrich Ludwig Jahn, Erfinder des Turnens, eine Reizfigur, die bei den Herrschenden unter Subversionsverdacht stand. Heute ist er umstritten, weil er in seinen Schriften Chauvinismen verbreitete.


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Am 15. Oktober vor 150 Jahren starb der Mann, den seine Anhänger den "Turnvater" nannten, in Freyburg an der Unstrut, das im heutigen Bundesland Sachsen-Anhalt liegt.

Die von der Aufklärung hervorgebrachten rationalen Wertvorstellungen waren dem 1778 geborenen Jahn in ihrer Einseitigkeit suspekt. Das Turnen verstand er als Gegengewicht und wollte, wie er schrieb, "die verloren gegangene Gleichmäßigkeit der menschlichen Bildung wieder herstellen". Auf dieses Ideal berufen sich die mehr als 4,8 Millionen organisierten Turner in Deutschland noch heute. "Er hat vor allem den Gesundheitssport vorangebracht", sagt Dieter Donnermeyer vom Deutschen Turner-Bund (DTB). "Wichtig ist dabei die Idee eines ganzheitlichen Ansatzes, der körperliche und geistige Aspekte miteinander verbindet".

1810 zog der Hilfslehrer Jahn mit einigen seiner Zöglinge an schulfreien Nachmittagen auf ein freies Feld, zeigte ihnen gymnastische Übungen und ersann gemeinschaftliche Geländespiele. Die Geburtsstunde seiner Turnbewegung wird auf das Jahr 1811 datiert: Auf der Hasenheide bei Berlin richtete er den ersten Turnplatz ein, ein detailliert durchdachtes Trainingsgelände mit Geräten, Schanzen, Gräben und einer Rennbahn. Schnell entwickelte sich die Hasenheide zum Anziehungspunkt für Buben und Männer aus der Stadt, die sich "frisch, fromm, fröhlich, frei" - so die Generationen prägende Losung Jahns - körperlich ertüchtigten.

In den Ruf eines verblendeten Nationalromantikers kam Jahn, weil er das Turnen in den Dienst des deutschen "Volksthums" stellen wollte und Sätze schrieb wie: "Haß alles Fremden ist des deutschen Pflicht." Aus dem Gymnastik-Jargon seiner Zeit ließ er alle Begriffe französischer Herkunft tilgen. Fortan hieß es nicht mehr "balancieren" und "voltigieren", sondern "schweben" und "schwingen". Das Wort "Turnen" schuf Jahn in der Überzeugung, es leite sich von einem germanischen Wortstamm ab - dabei hatte der Begriff seine Wurzeln im Lateinischen.

Dennoch warnen Wissenschafter davor, den "Turnvater" allzu leichtfertig als dumpfen Rassenfanatiker abzustempeln: "Wir müssen Jahn immer im historischen Kontext betrachten", sagt die Sporthistorikerin Petra Tzschoppe von der Universität Leipzig. Jahn sei unter dem Eindruck der französischen Fremdherrschaft nach der Niederlage preußischer Truppen gegen Napoleon 1807 gestanden. In Misskredit hätten ihn vor allem die Nationalsozialisten gebracht, die sein Wirken im Sinne ihrer Ideologie umgedeutet hätten. DTB-Funktionär Donnermeyer formuliert vorsichtig: "Seine Aussagen geben viel Raum für Spekulationen und sind nicht unumstritten." Auch Donnermeyer plädiert für eine differenzierte Betrachtung, die sowohl die positiven als auch die negativen Seiten Jahns berücksichtigt.

Die Forderungen Jahns und seiner Bewegung nach einem gesamtdeutschen Nationalstaat galten sogar als liberal und fortschrittlich. Ihren Sport verstanden sie als patriotische Kraftanstrengung. So gerieten die Anhänger Jahns rasch in den Verdacht, gegen die Herrschenden zu konspirieren. Um den staatsfeindlichen Umtrieben Einhalt zu gebieten, einigten sich die deutschen Staaten 1819 auf ein deutschlandweites Turnverbot. Jahn wurde verhaftet und erst nach einem langwierigen Prozess 1825 frei gesprochen. Die so genannte Turnsperre blieb bis 1840 bestehen.

Als zu bewahrendes Erbe hinterlässt der "Turnvater" nach Meinung von Donnermeyer seine egalitären Wertvorstellungen. Bemühungen um soziale Ausgewogenheit spielen im Vereinssport auch heute noch eine bedeutende Rolle. Auch Historikerin Tzschoppe zählt dieses Ideal zu den wichtigsten Verdiensten Jahns: "Mit der Einführung einer einheitlichen grauen Turnertracht hat er das Ideal der Gleichheit auf dem Übungsplatz verwirklicht."