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Spricht sie weiterhin nur in Kürzeln à la EFSM, EFSF und ESM, anstatt eine gemeinsame Zukunft zu versprechen, verliert die EU an Gefolgschaft.
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In einer Beziehung ist Sprachlosigkeit der Anfang vom Ende. Jener Punkt, an dem man keine Worte mehr findet, die Nähe erzeugen, und alles nur noch wie ein Therapiegespräch klingt; an dem jede verkrampfte Reminiszenz an die gemeinsamen Sonnenstunden einen weiteren Schatten über die gemeinsame Geschichte legt; an dem nur noch ein Partner wie ein Maschinengewehr spricht, während sich der andere wegdreht und schweigt.
Es scheint, als wäre die Beziehung zwischen Europa und den Bürgern an diesem Punkt angekommen. Seit Monaten versucht die EU, die Bürger in einer stenografischen Kürzelsprache von der gemeinsamen Zukunft zu überzeugen: EFSM, EFSF und ESM. Das erinnert an den Song der "Fantastischen Vier" über die Abkürzungs-Manie der Deutschen: "ADAC, DLRG, ojemine, PVC, FCKW, is nich ok, GbR, GmbH - ihr könnt mich mal."
Was soll sich der Bürger anderes denken als "hobts mi gern", wenn Politiker - und manche Journalisten - sich gar nicht mehr richtig bemühen, diese Kürzel in eine verständliche Sprache zu übersetzen. Wenn etwa die Grünen ihren Verhandlungserfolg mit der Regierung forsch mit "ESM ja, Fiskalpakt nein!" zusammenfassen, wenn es vom EU-Gipfel heißt: "Faymann fordert Banklizenz für ESM", eine Qualitätszeitung "Merkel will Eurobonds nach Schengen-Art" aufs Cover schreibt, und wenn sogar der Populist Strache das Volk mit ganzseitigen Inseraten "gegen das ESM-Diktat!" aufpeitschen möchte, kann die Reaktion des Volkes doch nur noch sein: "SMS, ESM, seid ihr plemplem?"
EU-Kommissar Rex
Der "Rettungsschirm" war der letzte Versuch einer Metapher, einer sprachlichen Brücke zum Volk; aber der bleibt in der Hitze des Gefechts immer öfters zugeklappt in der Ecke stehen, weil Erklärungen Politikern Redezeit und Journalisten Zeilen kosten.
Nun ist die Schwierigkeit, Europa zu erklären, so alt wie die EU selbst. Die EU ist seit ihrer Gründung zu einer technischen Sprache geradezu verdammt. Das liegt in erster Linie daran, dass die Nationalstaaten ihrem europäischen Dach, ihrem Spitzeninstitut, keine Minister zugestehen, sondern nur "Kommissare". Die Verfassung darf höchstens "Vertrag" heißen, der Außenminister "Hoher Beauftragter", das Gesetz "Richtlinie" oder "Verordnung". EU-Steuern gibt es keine, nur "Direktzahlungen".
Sprache ist Macht - und Macht ist die Hoheit über die Begriffe. Wollen die Nationalstaaten ihre Macht behalten, müssen sie ihre Begriffe mit Klauen und Zähnen verteidigen. Das Resultat: Beim Kommissar denkt man an weiterhin eher an "Tatort" oder "Rex" und bei Ashton weiterhin eher an den Schauspieler Kutcher. Die EU bleibt dort, wo sie die Nationalstaaten haben wollen: im fernen Brüssel, mit ihren Kommissaren im EU-Kommissariat.
Aber die EU hat sich ihre Sprachlosigkeit auch selbst zuzuschreiben. Niemand hat es den EU-Politikern angeschafft, einen ganzen Kontinent ohne Grenzen nach einem Kaff in Luxemburg zu benennen ("Schengen"). Das Stabilitäts-Korsett des Euro hätte einen anderen Namen verdient als "Maastricht-Kriterien". Und wer die Banken mit einer Stadt sicherer machen will, die gar nicht in der EU liegt ("Basel"), der will wohl gar nicht so recht verstanden werden - internationale Verträge hin oder her.
"Wir beschließen etwas, stellen das dann in den Raum und warten einige Zeit ab, ob was passiert. Wenn es dann kein großes Geschrei gibt und keine Aufstände, weil die die meisten gar nicht begreifen, was da beschlossen wurde, dann machen wir weiter - Schritt für Schritt, bis es kein Zurück mehr gibt", hat der Vorsitzende der Euro-Gruppe, Jean-Claude Juncker, den Wachstumsprozess der Union hinter den Rücken der Bürger selbstkritisch beschrieben.
Zu Ende gedacht, bedeutet das: Je technischer und komplizierter die EU-Begriffe, desto besser für eine EU, die sie durch die Hintertür bei den Menschen einschleicht. Ohne griffige Begriffe können Menschen nur schwer begreifen, "was da beschlossen wurde", und die EU kann "weiter machen, bis es kein Zurück mehr gibt".
Worauf trifft der Sager Junckers besser zu als auf "ESM" und "Fiskalpakt"? Da geht es um 700 Milliarden Euro - und der Bürger versteht doch nur Bahnhof. Man ist verleitet, den EU-Granden zu unterstellen, ihre Projekte absichtlich mit sperrigen Kürzeln zu verschleiern, damit sie am Stammtisch nicht funktionieren und niemand aufsteht.
Hinterlist kann man den Gründervätern und -müttern jedoch nicht vorwerfen. Sie waren davon überzeugt, etwas Großes zu schaffen. Je komplizierter und bürokratischer der Prozess wurde, desto kleiner aber wurde der Schatz an prickelnden Worten, die für eine dauerhafte Beziehung wichtig sind. Und dann schlich sich die Methode ein, die Juncker beschrieb: noch ein Konvent, noch eine Erweiterungsrunde, noch ein Vertrag, benannt nach einer unbedeutenden Stadt oder einem Buchstabenmonster - bis Politiker und Experten Sätze im Mund führten, die ins Kabarett, aber nicht in die Weltpolitik gehören: "EZB und IWF wollen einen ESM, der auf dem EFSF aufbaut."
ESM gegen CDS
Warum aber war die EU nicht schon vor vielen Jahren mit ihrem EU-Latein am Ende? Weil selbst dermaßen einsilbige Beziehungen funktionieren können, solange es eine gemeinsame Geschichte gibt. Eine Geschichte, die verbindet und mitten im Begriffs-Dickicht den Blick aufs größere Ganze frei gibt. Im Fall der EU waren das der Euro und die Reisefreiheit - mit der Betonung auf "war". Beides gibt es noch, aber beides taugt nicht mehr für eine Liebesbeziehung. Der Euro ist schwer angeschlagen, die Reisefreiheit wurde gerade wieder beschränkt.
Was bleibt, sind Kürzel. Und diese entspringen nicht zufällig der Finanzbranche. Seit der "Schuldenkrise" diktiert die Finanzbranche das Spiel und zwingt der EU ihre Sprache auf. Um sich ihren Gegnern - die in Gestalt der Deutschen Bank oder der französischen Ratingagentur Fitch auch in den eigenen Reihen sitzen - zu stellen, muss die EU die gleichen Waffen verwenden.
Deswegen kämpft die EU nun mit dem "ESM" gegen die "CDS", die Warren Buffett dankenswerter Weise "finanzielle Massenvernichtungswaffen" getauft hat: und mit der Idee der "Eurobonds" kämpft sie dagegen, dass ganz Südeuropa zu "Junkbonds" wird.
Die Euro-Rettung scheint derzeit als K(r)ampf ohne Alternative, vor allem für kleine Länder wie Österreich, die an Deutschland hängen. Doch wenn Politiker in dieser Phase der totalen Sprachlosigkeit plötzlich die "Vereinigten Staaten von Europa" fordern und glauben, sie können die Bürger mit einer schönen Phrase wieder versöhnen, dann haben sie den Bogen überspannt. Wer die Vereinigten Staaten als Nebensatz zur Euro-Debatte fordert, der fordert nichts anderes, als auf einer Beziehung, die in Trümmern liegt, eine Ehe aufzubauen.
Nein, diese Beziehung ist nur zu retten, wenn die EU neben ihren Kürzeln wieder klare Worte für die Zukunft der gemeinsamen Beziehung findet, und wenn sie wieder etwas verspricht, anstatt nur (Hunderte Milliarden) zu nehmen. Wie könnte dieses Versprechen, dieses Gelöbnis, sich zu bessern, aussehen?
Als erstes müsste die EU Übersetzer engagieren. Gemeint sind nicht die 3000 Dolmetscher, die das EU-Latein von einer Sprache in die andere übersetzen, sondern Übersetzer, die den technischen EU-Sprech in eine politische Sprache übersetzen, die einer demokratischen Union würdig ist. EU-Kommissionspräsident Barroso, Angela Merkel oder Herman von Rompuy sollten sich verpflichten, jeden Begriff darauf zu testen, ob er den Bürgern zugemutet werden kann. Bevor sie einem Begriff politisch Flügel verleihen, müssen sie schauen, ob der Begriff nicht sofort in der Bedeutung abstürzt, sobald er auf der Straße landet. Sie müssen mit Hilfe dieser Übersetzer Bilder malen, die man zu deuten weiß, sonst setzen sie sich dem Verdacht aus, die Buchstabenmonster absichtlich auf die Bürger loszulassen, damit diese verschreckt (und damit ruhig gestellt) werden.
Für diese Übersetzungsarbeit braucht es statt der Brüsseler Kürzel-Drescher vielleicht ein paar Dichter und Philosophen. Vor allem in der EU-Kommission, die, so scheint es manchmal, eine bizarr-erotische Beziehung zu ihren Kürzeln hegt.
Verfassung 2.0
Sollten es EU-Politiker wirklich ernst meinen mit dem nächsten Schritt, mit den "Vereinigten Staaten von Europa", dann müssten auf diese klaren Worte auch klare Taten folgen. Denn "Vereinigte Staaten" kann man nicht auf Kürzel und Notwehraktionen wie dem "ESM" aufbauen. Dafür braucht es eine Verfassung mit Gesetzen und EU-Ministern. Diese Verfassung muss all das, was Europa ausmacht und von China oder den USA in den nächsten Jahrhunderten unterscheiden soll, festschreiben: nicht nur Sparziele, sondern auch zeitgemäße Wachstumsziele, nicht nur "Strukturmaßnahmen", sondern auch Maßnahmen zur Bekämpfung der Arbeitslosigkeit und Armut; nicht nur eine Bankenunion nach dem Motto "too big to fail", sondern strenge Regeln für die Finanzbranche; sie muss Gewerkschaftsrechte genauso festschreiben wie das Recht auf Ausbildung und ökologische Grundwerte.
Nach dem Schiffbruch mit der letzten EU-Verfassung und dem Euro-Schlamassel sehen viele eine echte EU-Verfassung in weite Ferne gerückt. Aber klare Worte, klare Taten und ein Schuss mehr Ehrlichkeit können Wunder bewirken (schlag nach bei Figl!); vor allem bei jungen Menschen, die nichts anderes kennen als die EU - und die gerne an diese Union glauben würden, aber ihre Sprache und Ziele nicht verstehen.
"Alle großen Dinge sind einfach, und viele können mit einem einzigen Wort ausgedrückt werden: Freiheit, Gerechtigkeit, Ehre, Pflicht, Gnade, Hoffnung", hat Winston Churchill gesagt. Traut sich die alte Garde der EU-Politiker nicht, den Kampf für Gerechtigkeit, Ehre, Pflicht, Gnade, Hoffnung neu aufzunehmen - gerade jetzt in der Krise - und versteift sich auf das "more of the same", also mehr Europa am Bürger vorbei, dann baut sie ein Europa, das sich langfristig den USA schon namentlich mehr annähert, als sich davon zu unterscheiden - als "USE". Außerdem riskiert sie, was jeder Partner riskiert: dass der andere endgültig Schluss mit ihm macht - und zwar mit dem Kürzel "MfG!"
Clemens Neuhold, geboren 1977, war Wirtschaftsjournalist und EU-Korrespondent beim "Kurier", Blattmacher beim Stadtmagazin "biber" und ist nun freier Journalist und Textcoach.