Ab 1. Jänner wird das Pflegepersonal in Wien Blut abnehmen, EKG schreiben und Infusionen legen. Die einen sehen eine Aufwertung, die anderen einen Mehraufwand. Wie das Personal von den bisherigen Tätigkeiten entlastet werden soll, ist unklar.
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Wien. Jeder braucht Motivation. Seien das ein paar wohlwollende Worte, ein Schulterklopfen oder gar eine Beförderung. Im SMZ Süd - Kaiser-Franz-Josef-Spital sind es Sticker. Glitzernde bunte Smiley-Stickers mit Partyhüten. Stolz werden sie vom Pflegepersonal gesammelt. Es sind Auszeichnungen, wie sie Volksschüler von ihren Lehrern bekommen. Nur sagen diese Sticker nichts aus über den Alphabetisierungsgrad oder die Rechenkünste des Sammlers, sondern geben Zeugnis über das jüngste Kapitel österreichischer Gesundheitspolitik. Wie gut kann die Krankenschwester Blut abnehmen, wie flink Infusionen legen oder wie genau ein EKG schreiben? Für jede erfolgreich absolvierte Tätigkeit gibt es einen Sticker. Und sie sollen fleißig Sticker sammeln. Denn ab 1. Jänner werden diese Tätigkeiten Teil ihres Alltags sein.
Dann soll alles besser werden. Für die Medizin und die Pflege. So wurde es im Sommer im Rahmen der neuen Turnusärzteausbildung beschlossen. Die angehenden Götter in Weiß sollen von den "Hilfstätigkeiten" - wie Blutabnehmen - entlastet werden, um sich auf das Wesentliche zu konzentrieren. Wer sie entlasten soll, war schnell ausgemacht: Die Pflege. Im Wiener Krankenanstaltenverbund (KAV) hat man rasch gehandelt. Ab 1. Jänner sollen alle 11.300 Pflegemitarbeiter der elf KAV-Krankenhäuser unter anderem Blut abnehmen, EKG schreiben, Darmeinläufe machen, Harnkatheter und Infusionen legen. Der Arzt ordnet an, die Schwester führt aus. Im Sommer kam der entsprechende Erlass von der KAV-Generaldirektion - ohne vorherige Absprache mit der Gewerkschaft. Vier Monate hatten die Krankenschwestern - ein Großteil des Pflegepersonals ist nach wie vor weiblich - Zeit zum Üben. In ein paar Tagen sollen sie beweisen, wie weit sie sind.
Erste Anlaufstelle
Der Venenkatheter hat Elisabeth Wollinger anfangs nervös gemacht. Die lange Nadel, die sie dem Patienten tief in den Arm stechen sollte. "Das ist für mich schlimm gewesen", sagt die 49-Jährige und schüttelt sich, "aber ich habe es gelernt." Seit sieben Jahren arbeitet Wollinger im 10 Bezirk im Kaiser Franz Josef Spital, im Pavillion I, in der gynäkologischen Abteilung. Acht diplomierte Krankenschwestern, zwei Stationshelfer und die Stationsleitung kümmern sich hier um die Patienten. Der Pavillon I ist überschaubar. Im Erdgeschoß schnaufen werdende Mütter im Warteraum, während ihre Partner ihnen den Rücken kraulen. Es ist 14 Uhr. Seit 7 Uhr früh ist Wollinger auf den Beinen. Sind alle Betten voll, ist sie mit einer Kollegin 12 Stunden lang für 19 Patientinnen zuständig. Sie navigiert sie durch den Krankenhauskosmos, wäscht sie, wenn sie es selbst nicht mehr können, übersetzt ihnen das komplizierte Kauderwelsch der Ärzte und beruhigt nervöse Verwandte, wenn die Operation ein bisschen länger dauert.
Und dann kam Lainz
Dass ihr Verantwortungsradius nun um ein Vielfaches erweitern wird, stört Wollinger nicht. Im Gegenteil. "Das war für uns die Butter auf dem Brot", sagt sie. Schließlich ist sie dafür in der Krankenschwesterschule ausgebildet worden. Hat dort geübt, wie man Blut abnimmt, an Orangen, geduldigen Kollegen und Puppen mit Himbeersaft in den Plastikadern. In der Theorie beherrscht das Pflegepersonal die neuen Aufgaben. Ob dies auch in der Praxis so ist, hängt von den jeweiligen Krankenhäusern und Abteilungen ab. In manchen durften die Pflegekräfte schon bisher im "mitverantwortlichen Tätigkeitsbereich" - wie es im Fachsprech heißt - verschiedene Aufgaben übernehmen, in anderen nicht. Sei es, weil sie mit so vielen anderen Dingen beschäftigt waren, oder aus ideologischen Gründen.
Denn seit dem Lainz-Skandal 1989 war die spritzende Krankenschwester nicht gern gesehen. Damals töteten vier Hilfsschwestern im Krankenhaus Lainz - heute Hietzing - im Zeitraum von sechs Jahren insgesamt 42 Patienten. Ihnen wurden Schlafmittel-Überdosen verabreicht, Wasser in die Atemwege geleitet oder Nicht-Diabetikern Insulin in tödlichen Dosen gespritzt. "Das brutalste und grausamste Verbrechen der österreichischen Geschichte", zitierte das deutsche Wochenmagazin "Der Spiegel" den damaligen Bundeskanzler Franz Vranitzky. Plötzlich stand eine ganze Berufsgruppe unter Generalverdacht. Von einem Tag auf den anderen war es vorbei mit den Spritzen. Die Ärzte würden nun diese Tätigkeiten übernehmen, hieß es. Offiziell wurde nie kommuniziert, dass es einen Zusammenhang zwischen der Abnahme medizinischer Tätigkeiten des Pflegepersonals und dem Lainz-Skandal gab. Viele vor allem ältere Schwestern nehmen es hingegen bis heute so wahr.
Ein Mehraufwand für die Pflege
Dass sie nun wieder Hand anlegen dürfen, wofür sie eigentlich ausgebildet wurden, sehen viele als Aufwertung. Endlich kann die Pflege zeigen, was sie in der Ausbildung gelernt hat - ist mehr Fachkraft als sorgende Mutter, die das Essen bringt und den Sabber wegwischt.
"Das ist eine fadenscheinige Behauptung", sagt dazu der Gewerkschafter Gerhard Steiner. Er ist Vorsitzender des "Personalgruppenausschusses Pflege" der Hauptgruppe II des Wiener KAV. "Das ist keine Aufwertung einer Berufsgruppe, das ist eine Tätigkeitsverschiebung vom Arzt hin zur Pflege", kritisiert Steiner. Und diese ist ausgelastet genug - mit Aufgaben, für die sie überqualifiziert ist. So beziehen Krankenschwestern in manchen Abteilungen die Betten, geben das Essen aus und kümmern sich ums Administrative - diese Zeit fehlt ihnen dann für die Patienten.
Die zusätzlichen Aufgaben ab 1. Jänner bedeuten für sie auch einen Mehraufwand. Jede Spritze, die sie geben, jede Infusion, die sie legen, ist Zeit, die sie für die Dokumentation ihrer Tätigkeiten verlieren - und die später nachgeholt werden muss. Denn einen flächendeckenden Plan, wie die Pflege von ihren bisherigen Aufgaben entlastet werden kann, hat der KAV noch nicht.
Derzeit wird lediglich auf den Stationen evaluiert, was fehlt und wie Posten verschoben werden, sodass beispielsweise Stationssekretäre zum Einsatz kommen können. Zusatzposten wurden bisher keine geschaffen. So liegt es an der Kreativität jeder einzelnen Krankenhausleitung, Posten so umzuschichten, dass sich der Mehraufwand für die Pflege in Grenzen hält. Gewerkschafter Steiner gibt zu bedenken: "Eine Aufwertung ist es dann, wenn die Pflege dauerhaft von Tätigkeiten entlastet wird, für die sie mit Sicherheit überqualifiziert ist. Denn fürs Kastlwischen brauche ich kein Krankenpflegediplom."