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Staaten als Terroristen

Von Dieter Reinisch

Gastkommentare
Dieter Reinisch ist Historiker an der Universität Galway und lehrt an der Webster Vienna Private University.
© privat

Terror nur mit nicht-staatlichen Akteuren zu assoziieren, greift zu kurz.


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Terror ist in aller Munde: Es vergeht kaum ein Tag, an dem nicht medial darüber berichtet wird, aktuell auch über den Wiener Terrorprozess. Seit den Anschlägen vom 11. September 2001 und ihren Nachwirkungen, vor allem dem "Krieg gegen den Terror" des damaligen US-Präsident George W. Bush, hat sich die Wahrnehmung von Terror stark gewandelt.

Terror wird heute oft mit gewaltsamen Aktionen nicht-staatlicher, muslimischer Akteure gleichgesetzt. Jared Ahmad von der Universität Sheffield hat diese verzerrte Vorstellung kritisiert: "Politik und Medien machten nach dem 11. September Terrorismus zu einer islamischen Sache."

Ein anderes Terrorverständnis zeigte das EU-Parlament im November: Es verurteilte die "vorsätzlichen Angriffe und Gräueltaten" gegen die Zivilbevölkerung in der Ukraine und stufte Russland als "dem Terrorismus Vorschub leistenden und terroristische Mittel einsetzenden Staat" ein. Dies wirft die Frage auf: Können Staaten Terroristen sein?

Terror hat eine lange Geschichte und tritt in unterschiedlichen Formen auf. Terror gibt es seit Jahrtausenden, und das Verständnis davon hat sich im Laufe der Geschichte immer wieder gewandelt. Ich definiere Terrorismus als angewendete oder angedrohte heterogene Gewalt, die politische Ziele verfolgt. Sie kann eine Vielzahl von Aktionen, Zielen und Akteuren umfassen.

Es ist eine Form der politischen Kommunikation, denn Terroranschläge - als eine Unterkategorie der Kriegsführung - richten sich an ein breites Publikum in der Hoffnung, politische Ziele zu transportieren, Einfluss auf politische Akteure zu gewinnen und bestehende Machtbeziehungen zu verändern.

Betrachten wir die gesamte Geschichte des Terrors, sind terroristische Aktionen von staatlichen Akteuren - also Staatsterrorismus - weiter verbreitet als nicht- und antistaatliche Gewalt. Die Terrorismusforscherin Erica Chenoweth (Harvard) fasste 2017 im "Journal of Conflict Resolution" sechs Charakteristika des Staatsterrorismus zusammen:

Dissens provoziert staatliche Repression.

Staatliche Repression tritt in Autokratien häufiger auf.

Die kurz- und langfristigen Effekte der Repression auf die Opposition variieren derart stark, dass sie unbestimmbar sind.

Staatliche Repression ist weniger erfolgversprechend gegen gut organisierte, friedliche Oppositionsbewegungen.

Friedliche und nicht-gewalttätige Opposition provoziert weniger repressive Staatsmaßnahmen als gewaltsamer Dissens.

Der Erfolg der Repressionsmaßnahmen ist eine Bedingung für den Staat, um die Loyalität seines Sicherheitsapparats zu garantieren.

Staatliche Gewalt gegen politischen Dissens

Ruth Blakeley (Universität Sheffield) und Sam Raphael (Universität Westminster) schrieben 2016: "Im Laufe der Geschichte wurde ein erheblicher Teil staatlicher Gewalt eingesetzt, um die Bevölkerung zur Einhaltung der Agenden der politischen und wirtschaftlichen Eliten zu zwingen, indem diese Gewalt dazu diente, einem Publikum jenseits der direkten Opfer Angst einzujagen." Staatliche Gewalt soll helfen, bestimmte Ziele zu erreichen und politischen Dissens einzudämmen.

Forschungen zum Staatsterror konzentrieren sich auf totalitäre und autokratische Regime wie NS-Deutschland, China unter Mao Zedong, Kambodscha unter Pol Pot und die Sowjetunion unter Josef Stalin. Ohne Zweifel waren dies besonders brutale Formen systematisch organisierten Staatsterrors, um Angst in der Bevölkerung zu verbreiten. Staatsterrorismus kommt aber auch in liberalen Demokratien vor. Gezielte Tötungen sind wichtige Instrumente im staatlichen Anti-Terror-Repertoire - und sie sind selbst eine Form des Staatsterrorismus. In den 1980ern ermordeten britische Spezialeinheiten gezielt IRA-Mitglieder im ländlichen Gebiet ("shoot-to-kill-policy").

Im Kalten Krieg war die Finanzierung paramilitärischer Todesschwadronen in Lateinamerika und anderen Weltregionen eine weit verbreitete Form der Terrorunterstützung der USA. Neuere Beispiele sind der Einsatz von Drohnen zur Tötung vermuteter Dschihadisten unter Ex-US-Präsident Barack Obama oder palästinensischer Aktivisten im Gazastreifen durch Israel. Auch nicht-staatliche Paramilitärs werden, etwa in Kolumbien, gegen marxistische Guerillas eingesetzt, um politische Gegner und die Zivilbevölkerung zu tyrannisieren. Besonders weit verbreitet war der Einsatz prostaatlicher Paramilitärs in Nordirland in den 1990ern.

Staatsterror in seiner modernen Form trat zuerst während der Französischen Revolution auf. Es ist ein Terror von oben nach unten jener, die die Staatsgewalt in Händen halten, um diese durchzusetzen beziehungsweise zu erhalten - im Gegensatz zum nicht-staatlichen Terror von unten nach oben, der oft eine Änderung der Staatsform anstrebt.

Im 20. Jahrhundert setzte eine weitere Form prostaatlichen Terrors ein: politische Gewalt durch nicht-staatliche Akteure, die direkt oder indirekt vom Staat unterstützt werden, um staatliche Ziele durchzusetzen. Staaten setzten zusätzlich weiter selbst terroristische Handlungen gegen andere Staaten oder die eigene Bevölkerung. Staatsterror ist die breiteste und tödlichste Form des Terrors. Auch der Ukraine-Krieg wird von beiden Seiten mit staatsterroristischen Mitteln geführt. Hier sind Gruppen aktiv, die von den USA als "terroristisch" bezeichnet werden: Azow auf ukrainischer und Wagner auf russischer Seite - nur zwei Beispiel von vielen.

Der vorliegende Text ist ein überarbeiteter Auszug aus dem soeben erschienenen Buch von Dieter Reinisch "Terror: Eine Geschichte der politischen Gewalt" (Promedia 2023), in dem er die Formen und Akteure des Terrorismus über die vergangenen 2.000 Jahre beschreibt.