Für Start-ups gilt Seoul als perfektes Versuchslabor - die Regierung erkennt deren Potenzial und investiert kräftig.
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Seoul. Wenn Ethan Lee beim alljährlichen Klassentreffen auf alte Schulfreunde trifft, sitzt er meist neben frischgebackenen Ärzten, Anwälten und Samsung-Managern. Oft muss sich der 30-Jährige dann rechtfertigen, warum ausgerechnet er, der brillanteste Student von allen, den Schritt in die Selbstständigkeit gewagt hat - zumal aus freien Stücken. Start-up-Gründer, das klingt im konservativen Südkorea vor allem nach Risiko, Prekariat, Notfallplan. Wegen Leuten wie Lee wird sich das jedoch bald ändern.
An diesem schwülen Juli-Nachmittag sitzt der Jungunternehmer im frisch bezogenen Büro-Loft im Nobelviertel Gangnam, trägt ein blaues Shirt zur schwarzen Rahmenbrille und redet davon, mit seinem 13-köpfigen Team nach Europa zu expandieren. MyMusicTaste nennt sich das soziale Netzwerk des Südkoreaners, und es soll nichts weniger als die Konzertindustrie revolutionieren: eine Plattform für Fans, die per App ihre Lieblingskünstler mit Crowdfunding in ihre Stadt holen können, ohne jedoch von der Gunst der Konzertveranstalter abhängig zu sein. "Mein Anfangsgedanke war: Wenn ich nur ein Team aus guten Leuten zusammenbekomme, wird schon etwas Erfolgreiches dabei herumkommen", sagt Lee. Samsung muss das ähnlich gesehen haben, denn das südkoreanische Konglomerat investierte vor kurzem umgerechnet drei Millionen Euro in MyMusicTaste.
Dutzende solcher Ideen florieren derzeit in Seouls aufkeimender Tech-Branche. Kaum eine Stadt der Welt genießt momentan einen größeren Hype als Start-up-Magnet: Jüngst im Mai eröffnete Google hier seinen ersten Campus in Asien, das Magazin der "New York Times" titelte "Was Silicon Valley von Seoul lernen kann", und wenn europäische Zeitungsverleger die Zukunft mobiler Internetnutzung erschnuppern wollen, buchen sie meist eine Bildungsreise in den ostasiatischen Tigerstaat.
All das ist nicht zuletzt das Ergebnis konsequenter, staatlicher Investitionen: Bereits 1995 erarbeitete die südkoreanische Regierung einen Zehn-Jahres-Plan zum Ausbau der Breitbandverbindungen. Heute verfügt das Land am Han-Fluss über die schnellsten Internetleitungen der Welt, flächendeckendes Wifi in urbanen Räumen und eine überaus technikaffine Bevölkerung. Nun kündigte das Wissenschaftsministerium an, mit einem 1,5 Milliarden Euro schwerem Investitionspaket Koreas mobile Infrastruktur weiter auszubauen. Bis 2020 soll diese tausendmal schneller sein als bisher. Oder anders ausgedrückt: Spielfilme könnten dann in gerade mal einer Sekunde heruntergeladen werden.
Eigene Kreativität statt Abkupfern fremder Ideen
Die Strategie der Regierung ist auch ein Eingeständnis an einen sich verändernden, zunehmend globalen Markt: Das System der Chaebols, der koreanischen Konglomerate, die den Motor für das rasante Wirtschaftswachstum der letzten 40 Jahre bildeten, steckt seit Jahren in einer Sackgasse. Samsung etwa hat jahrzehntelang sein Geschäftsmodell darauf aufgebaut, existierende Produkte abzukupfern, zu perfektionieren und für einen günstigeren Preis zu verkaufen. All dies basierte auf einer rigiden Arbeitskultur mit strikten Hierarchien, blindem Gehorsam und geradezu militärischer Kameradschaft. Doch kreative Ideen lassen sich nun mal nicht durch 70-Stunden-Wochen erzwingen. Oft liegen sie einfach auf der Straße.
Etwa die von Joon Oh: Als der gebürtige Amerikaner nach Korea zog, ins Land seiner Eltern, fielen ihm sofort die unzähligen Restaurants auf, die an jeder Straßenecke wie Pilze aus dem Boden schossen. Doch deren kulinarische Vielfalt war meist überschaubar, die Qualität schwankte, und wer sich im Internet nach alternativen Restaurant-Empfehlungen umschaute, stieß meist auf getarnte Werbeeinträge oder erboste Konkurrenten. Also startete Ho seine eigene Liste mit Gourmet-Geheimtipps, damals noch als Excel-Datei, die bald auf über zweitausend Einträge heranwuchs. Als immer mehr begeisterte Arbeitskollegen eine Kopie davon haben wollten, dachte sich Ho: Das könnte sicher auch eine Nummer größer funktionieren. Drei Jahre später gilt seine App "Mango Plate" als Südkoreas beliebtestes Restaurant-Bewertungstool.
"Seoul ist schlicht das ideale Versuchslabor für internationale Start-ups", sagt der Enddreißiger: "Die Bevölkerungsdichte, das Bildungsniveau der Leute, die Konnektivität - all das ist hier überaus erstaunlich." Auf seinem Weg in die Selbständigkeit entpuppten sich jedoch keinesfalls bürokratische Hürden als größtes Hindernis, auch nicht die finanzielle Risiken. Nein, zuallererst galt es, die eigenen Eltern davon zu überzeugen, seine gut bezahlte und hochangesehene Stelle als Samsung-Angestellter aufzugeben. Ein Problem, mit dem sich Joon Ho nun wiederum als Arbeitgeber konfrontiert sieht: "Es ist definitiv schwierig, die talentiertesten Uni-Absolventen für Start-ups zu begeistern. Oftmals werden in Korea Entscheidungen wie die Berufswahl noch immer von den Eltern getroffen."
Staatliche Hilfen müssenheikle Balance wahren
Auch deshalb sind die Investitionen der Regierung ein wichtiges Signal: Den Eltern des Landes zu zeigen, dass ihre Söhne und Töchter in einer Branche arbeiten, die zwar wenig Sicherheit bietet, aber durchaus Hand und Fuß hat. In Seoul stellt die Stadtregierung öffentliche Büroräume zur Verfügung und schreibt Stipendien aus. Gleichzeitig bergen die staatlichen Geldzuschüsse auch eine Gefahr: Investiert die Regierung zu lange in die Branche, wird sie den kreativen Humus durch Überregulierungen austrocknen. Steigt sie jedoch zu früh aus, könnte die Start-up-Szene noch vor der ersten Blüte im Keim ersticken. Und überhaupt: Vom Staat diktierte Kreativität, kann das funktionieren?
"Jeder in Südkoreas Start-up-Szene hat in irgendeiner Weise von Regierungsgeldern profitiert", sagt Richard Min: "Natürlich stehen die Beamten aber auch unter Erklärungsnot, warum sie das Geld der Steuerzahler bei uns investiert hat. Wir brauchen daher mehr Erfolgsgeschichten." Min gilt als einer der wenigen, der diese produzieren kann: Als Pionier der Branche betreut er seit über 15 Jahren Start-ups als Coach und Mentor. Er kennt die Regeln wie kein Zweiter, um auf dem koreanischen Markt bestehen zu können.
Als gebürtiger Amerikaner gehört Richard Min auch zu jenen "Rückkehrern", die die Tech-Szene vor allem in ihren Anfängen maßgeblich beeinflusst haben. Natürlich ist dies kein Zufall, kommt ihnen doch die frische Perspektive auf das Heimatland ihrer Eltern zugute. "Hier gilt Misserfolg oft als Schande. In Amerika wird das eigene Scheitern wie ein Ehrenabzeichen getragen, auf dem Weg zum nächsten Versuch", sagt Min.
Um sich von der Last der Tradition zu befreien, geben sich daher die meisten Mitarbeiter in koreanischen Start-ups westliche Vornamen, kommen auch mal in Shorts zur Arbeit und sprechen möglichst informell miteinander. Vor allem aber scheuen sie auch nicht davor zurück, von einer besseren Welt zu träumen - denn das ist letztlich das Versprechen der Start-up-Welt an die koreanische Jugend: Dem Broterwerb eine erfüllende Bedeutung verleihen.
Dessen ist sich auch Ethan Lee von MyMusicTaste bewusst. Noch erntet er von seinen einstigen Klassenkameraden trotz seines frühen Erfolges meist hochgezogene Augenbrauen und fragende Blicke. "Spätestens in fünf Jahren werden sie mich beneiden", sagt Lee: "Nämlich dann, wenn sie endgültig realisieren, dass ihr Job nichts bewirkt außer großen Firmen Geld zu bringen."