Experte fordert bei der Kurzarbeit die Aufhebung von Leiharbeiterverboten. | Plädoyer für mehr Privatisierungen und ein Zurückfahren der Staatsschulden. |
§§"Wiener Zeitung": Aus der kürzlich veröffentlichten Konjunkturumfrage der Industriellenvereinigung geht vereinfacht gesagt hervor, dass Österreichs Industrielle den Tiefpunkt der Rezession bereits erreicht sehen. *
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Christian Helmenstein: Wir gehen davon aus, dass die Bodenbildung in der österreichischen Industriekonjunktur unmittelbar bevorsteht - zugleich befinden wir uns allerdings tief unter Wasser. Es ist also eine Bodenbildung auf niedrigstem Niveau.
Gleichzeitig gehen aber 60 Prozent der befragten IV-Mitglieder davon aus, dass sie ohne Personalabbau auskommen werden. Wenn deutlich mehr als die Hälfte der Industrieunternehmen nicht einmal Kündigungen vornehmen will, erweckt dies den Eindruck, dass die wirtschaftliche Situation so schlimm eigentlich nicht sein kann.
Wenn die verbleibenden 40 Prozent der Unternehmen Mitarbeiter abbauen müssten, würde das immer noch eine dramatische Negativwirkung für den österreichischen Arbeitsmarkt haben. Per Saldo müssen wir damit rechnen, dass es zu einem signifikanten Beschäftigungsabbau kommen wird, der uns höchstwahrscheinlich noch das ganze Jahr 2010 begleiten wird.
Der Höchststand der Arbeitslosigkeit wird nicht vor der Winterspitze 2010/2011 erreicht sein. Aber es ist in der Tat richtig, dass sich die Einschätzungen in diesem Bereich - in sehr negativem Territorium - etwas verbessert haben.
Da macht sich nach unserem Dafürhalten unter anderem die Verbesserung der Kurzarbeitszeitregelung bemerkbar, wenngleich das eigentlich nur die eine Hälfte des Weges ist. Was jetzt fehlt, ist eine Aufhebung des Leiharbeiter- und Überstundenverbots.
Die Industrie fordert seit Beginn der Wirtschaftskrise ständig irgendwelche Erleichterungen, Begünstigungen und Unterstützungen - von der Dynamik privater unternehmerischer Initiative ist hingegen nicht viel zu merken. Man könnte fast sagen, die Industrie ist zur Heulsuse der Nation geworden.
Zu diesem Schluss vermag ich nicht zu gelangen. Betrachten wir die Fakten, dann stellen wir fest, dass diese Krise zu Beginn ein Abschwungstempo aufwies, wie das zur Zeit der Großen Depression 1929 der Fall war. Die Auftragseinbußen waren 2008/2009 genauso groß oder, je nach Monatsausweis, noch größer als in der Krise des Jahres 1929. Das gilt für Österreich wie auch im globalen Maßstab.
Dennoch bin ich optimistisch, dass wir nicht den Weg in eine Große Depression gehen werden. Vor allem, weil es diesmal andere fiskal-, geld- und handelspolitische Reaktionen gab.
Während 1929 der Gürtel enger geschnallt wurde, wird jetzt fiskal- und geldpolitisch sehr aktiv gegengesteuert.
Ihr Lob für die expansive Fiskal- und Geldpolitik, also die Strategie des Schuldenmachens, klingt wie die Worte eines Keynesianers, der bloß irrtümlich in der Industriellenvereinigung gelandet ist.
Ist es nicht ein Privileg, alle werthaltigen Erkenntnisse von Jahrzehnten der Wirtschaftsforschung berücksichtigen zu können?
1929 konnte man weder auf Keynesianismus, Neo-Keynesianismus oder Neuklassik zurückgreifen. Heute haben wir den Vorteil, aus 1929 - also jenem Hintergrund, vor dem Keynes seine Ableitungen getroffen hat - lernen zu können.
Wir müssen uns fragen: Was ist die adäquate wirtschaftspolitische Reaktion? Zu einem Zeitpunkt kann die adäquate wirtschaftspolitische Reaktion zum Teil in einer aktiven Fiskalpolitik bestehen, und zu einem anderen Zeitpunkt kann eine adäquate wirtschaftspolitische Reaktion angebotspolitische Maßnahmen erfordern. Die Kunst liegt darüber hinaus darin, Konjunkturpolitik und Strukturpolitik miteinander zu verknüpfen.
Wann hat diese Liebesaffäre mit linker ökonomischer Theorie bei Ihnen begonnen?
Ich vertrete einen liberalen Standpunkt und halte es für kontraproduktiv, bestimmte Erkenntnisse aus ideologischen Gründen auszuschließen. Ich möchte bei der Formulierung einer evidenzbasierten Wirtschaftspolitik keine Einsichten auslassen, die wachstums- und beschäftigungspolitische Implikationen haben.
Wird die Industrie jene staatliche Unterstützungen und politischen Entgegenkommen, die sie nun erhalten hat, in der Zukunft in irgendeiner Form abtragen müssen? Ist das ein Rucksack, den man nur mittels eigener politischer Zugeständnisse wieder ablegen können wird?
Das sind ja keine Geschenke. Die Kreditgarantien im Rahmen des Unternehmensliquiditätsstärkungsgesetzes werden mittels Garantieprämien abgegolten. Insofern sehe ich nicht, dass daraus ein über die vertragliche Beziehung hinausgehendes Obligo erwächst.
Wenn Sie wollen, übererfüllt die Wirtschaft ihr Obligo, denn sie wird selbstverständlich, wenn die schwierige Zeit überwunden ist, auch wieder aktiv in den Standort investieren.
Ob diese Prämien angemessen und kostendeckend sind, kann derzeit noch nicht beurteilt werden. Aber selbst wenn sie kostendeckend kalkuliert sind, sind diese Kreditgarantien für die Industrie eine staatliche Hilfe, die andere nicht lukrieren können.
Diese Ansicht vermag ich so nicht zu teilen. Werfen wir einen Blick in das österreichische Bundesbudget. Weniger als ein Viertel der gesamten Ausgaben des Bundes werden für den gesamten Personal- und Sachaufwand des Bundes aufgewandt. Wofür werden die anderen drei Viertel verwendet? Die Hälfte davon fließt in sogenannte Transferbudgets, sprich Sozialleistungen. Dann kommen die Mittel für die nachgeordneten Gebietskörperschaften und den Schuldendienst hinzu und schließlich die Subventionen für die Wirtschaft einschließlich der Landwirtschaft.
Das heißt, man wird wohl schwer von einer Bevorzugung der Wirtschaft im Allgemeinen oder der Industrie im Besonderen sprechen können, wenn man den Umfang unseres Transferbudgets betrachtet.
Sie vergleichen die Kreditgarantien für Industrieunternehmen mit der Sozialhilfe, die Menschen bekommen, die nicht in der Lage sind, einen menschenwürdigen Lebensunterhalt zu verdienen?
Nein, ich verweise darauf, dass die Kreditgarantien nach dem Versicherungsprinzip konstruiert sind. Außerdem wäre es eine Illusion zu glauben, dass wir ohne eine funktionierende Wirtschaft in der Lage wären, unseren hohen Sozialstandard aufrecht zu erhalten. Das heißt, unter Kausalitätsgesichtspunkten macht es Sinn sicherzustellen, dass in einer historisch äußerst schwierigen Phase der Standort nicht beschädigt wird, die Produktionsmöglichkeiten in Österreich nicht auf Dauer reduziert werden. Denn nur dann wird Wertschöpfung in einem Ausmaß erhalten bleiben, dass wir uns diesen Sozialstandard auch in Zukunft leisten können.
Es verblüfft ein wenig, dass die Industriellenvereinigung kürzlich die in Deutschland beschlossene gesetzliche Begrenzung der Staatsschulden auf 0,35 Prozent des Bruttoinlandsprodukts ausdrücklich begrüßt und als vorbildhaft bezeichnet hat. Einerseits fordert und erhält die Industrie derzeit selbst staatliche Unterstützungen, will aber andererseits gleichzeitig das Haushaltsdefizit begrenzen.
Das ist kein Widerspruch, sondern wir müssen die Fristigkeit beachten. Jetzt geht es darum, die Wirtschaft in einer äußerst schwierigen Situation zu stabilisieren. Für die Zukunft geht es dann aber um die Exit-Strategie aus den enormen Staatsschuldenzuwächsen.
Und wie kann beziehungsweise soll diese Exit-Strategie aussehen?
Nach meinem Dafürhalten gibt es grundsätzlich vier Möglichkeiten, wie man die enorme Staatsverschuldung reduzieren könnte. Die von mir präferierte Variante wäre jene über zusätzliches Wirtschaftswachstum durch Strukturreformen und durch Investitionen in unser Produktionspotenzial. Das würde höchstwahrscheinlich einen Zeitraum bis 2027 oder 2030 in Anspruch nehmen. Wenn uns eine entsprechende Wachstumsbeschleunigung gelingt, könnten wir die Verschuldung bis dahin wieder auf 60 Prozent des BIP reduzieren.
Drastische Sparmaßnahmen werden aber auch bei bestem Wirtschaftswachstum wohl nicht erspart bleiben?
Ausgabeneinsparungen sind die zweite Säule. Was zunächst vor allem einmal heißt, die Ausgabendynamik zu verringern, da ist man noch gar nicht bei absoluten Reduktionen von Ausgaben.
Eine dritte Möglichkeit ist das Zulassen von höheren Inflationsraten. Eine Inflationsrate von 4,1 Prozent über zehn Jahre würde bedeuten, dass der Verbraucherpreisindex von 100 auf 150 steigt. Das wiederum hätte zur Folge, dass sich die reale Staatsschuld innerhalb einer Dekade um ein Drittel verringern würde.
Und höhere Inflation hielten Sie für begrüßenswert?
Keineswegs. Ich bin diesbezüglich erleichtert, dass die EZB eine weitestgehend unabhängige Zentralbank ist, für die Preisstabilität hohe Priorität genießt. Denn de facto bedeutet höhere Inflation eine Steuer, die weder das eine noch das andere Ende der Einkommens- und Vermögensverteilung trifft, sondern genau den Mittelstand - also jene Menschen, die typischerweise festverzinslich veranlagt haben und von einem überraschenden Anstieg der Inflation durch Realvermögensverluste getroffen würden.
Eine weitere Möglichkeit, die Staatsverschuldung zu reduzieren, wären naturgemäß Steuererhöhungen.
Das wäre die vierte Möglichkeit, die ich für die schlechteste aller Varianten halte, weil sie dem Ziel höheren Wirtschaftswachstums diametral entgegenwirkt: Höhere Steuern unterminieren die Wachstumschancen.
Die Reduktion der Abgabenquote während des vergangenen Jahrzehnts hat wirtschaftliche Wachstumspotenziale freigesetzt. Wenn wir einen gegenteiligen Weg gehen und eine einnahmenseitige Budgetsanierung anstreben, würden wir unsere Wachstumsvoraussetzungen wieder schwächen und nicht stärken. Das hieße, wir würden es nicht schaffen, aus den Schulden herauszuwachsen.
Eine weitere theoretische Variante, um aus der Schuldenmisere herauszukommen, haben Sie noch nicht genannt: die einer Währungsreform.
Das ist keine Variante, sondern das ist eine Katastrophe.
Zur Person
Christian Helmenstein wurde 1961 in Köln geboren, studierte in Köln Volks- sowie Betriebswirtschaftslehre und promovierte in Bochum. Von 1992 bis 1997 war Helmenstein als Vertragsassistent am Institut für Höhere Studien (IHS) in Wien tätig. 1997 übernahm er die Leitung der Abteilung Finanzwirtschaft am IHS, 1999 jene der Abteilung Ökonomie & Finanzwirtschaft. 2004 wurde er zum Chefökonomen der Vereinigung der Österreichischen Industrie (Industriellenvereinigung) ernannt.