Zum Hauptinhalt springen

Staatswissenschafter Emmerich Tálos: "Stresstest bestanden"

Von Martina Madner

Politik

Eine Zwischenbilanz von Staatswissenschafter Emmerich Tálos zeigt, dass der Sozialstaat hilft, die Krise zu bewältigen. Zugleich zeigen sich auch Schwächen etwa in der Finanzierung und beim Leistungsniveau - auch für Einzelunternehmen.


Hinweis: Der Inhalt dieser Seite wurde vor 4 Jahren in der Wiener Zeitung veröffentlicht. Hier geht's zu unseren neuen Inhalten.

Emmerich Tálos, Professor am Institut für Staatswissenschaft der Universität Wien, ist seit 2009 formell im Ruhestand. Über Jahrzehnte hat er den österreichischen Sozialstaat, die Sozialpartnerschaft, die politische Entwicklung im 20. Jahrhundert und den Austrofaschismus beforscht. Die Wirtschaftskrise in der Folge der Covid-19-Pandemie nahm Tálos nun gemeinsam mit Herbert Obinger, Professor für Politikwissenschaft am Forschungszentrum Ungleichheit und Sozialpolitik an der Universität Bremen, zum Anlass, den Sozialstaat auf seine Krisentauglichkeit hin zu überprüfen.

Wiener Zeitung: Corona hat uns die größte Wirtschaftskrise seit dem Zweiten Weltkrieg beschert. Inwiefern kann sie der Sozialstaat - so wie er aktuell gestaltet ist - abfedern?

Emmerich Tálos: Die Coronapandemie hat sich als Stresstest für den Sozialstaat herausgestellt. Wir können als Zwischenbilanz feststellen, dass unser gut ausgebautes soziales Sicherungssystem wesentlich dazu beiträgt, dass wir diesen Stresstest gut bestehen. Mit der Spitalsinfrastruktur, auch was Intensivbetten anbelangt, steht Österreich im internationalen Vergleich sehr gut da. Mit unserem Gesundheitssystem wurde eine Überlastung bislang gebannt. Auch die massive Arbeitslosigkeit, die wir in der Zweiten Republik in diesem Ausmaß noch nicht hatten, wäre ohne den Sozialstaat noch höher gewesen. Der Anstieg konnte mit den Kurzarbeitshilfen zwar nicht verhindert, aber wesentlich eingedämmt werden.

Mängel wurden keine sichtbar?

Doch, und zwar auf mehreren Ebenen: Etwa wie die Förderung der Betriebe umgesetzt wurde, zum Teil auch bei der konkreten Umsetzung der Kurzarbeit. Die Krise hat vor allem aber deutlich gemacht, dass Österreich zwar bei der Pensions-, Kranken- und Unfallversicherung sehr gut aufgestellt ist, das Arbeitslosensicherungssystem bei einer Massenarbeitslosigkeit aber nicht ausreicht. 55 Prozent Nettoersatzrate reichen für viele nicht, um gut überleben zu können. Die Regierung versucht das zwar mit Einmalzahlungen auszugleichen. Das ist gut, reicht aber nicht.

Wirken solche Krisenhilfen nicht treffsicherer?

Die Alternative wäre ein Aufstocken vom jetzigen im internationalen Vergleich niedrigen Niveau auf 70 oder 80 Prozent, wie das nicht nur von der SPÖ und Gewerkschaften, sondern auch von kirchlichen Kreisen gefordert wird. Das ist ein Mangel im Sozialstaat, der schon vor der Krise bestand, sich jetzt aber drastisch zeigt. Teilzeitbeschäftigte, die ihre Arbeit verloren haben und nun 55 Prozent von beispielsweise 800 Euro netto erhalten - da kann niemand sagen, dass das eine adäquate Absicherung darstellt. Auch um Miete in Städten zu bezahlen, reicht das nie und nimmer.

Das Geld wird ja jetzt schon auf die Höhe der Sozialhilfe oder Mindestsicherung aufgestockt.

Das Aufstocken gibt es, nur ist der Betrag mit 927 Euro auf einem Niveau, das nicht ausreicht. Laut EU-Berechnung liegt die Armutsschwelle für einen Einpersonenhaushalt bei 1286 Euro. Die letzte Regierung hat den Richt- als Höchstsatz und damit den Bundesländern die Möglichkeit genommen, darüber hinauszugehen. Es gibt im Vergleich zu anderen Ländern in Österreich aber auch etwas Positives: die Notstandshilfe, die zeitlich nicht begrenzt ist. Man sammelt weiterhin Pensionszeiten und es gibt keine Vermögensanrechnung.

Kürzungen beim Sozialstaat haben aber nicht mit Türkis-Blau begonnen.

Den Plan, die Notstandshilfe abzuschaffen, gab es auch schon in der Regierung Schüssel. Das wurde von Schwarz-Blau I von 2000 bis 2006 nicht realisiert, dafür wurde Anderes umgesetzt. Diese Regierung hatte eine neoliberale Sicht vom Sozialstaat, was mit einer Schwächung durch Leistungsabbau einherging. Nach dem Motto ‚Vorsorge vor Fürsorge‘ sollten Menschen in erster Linie für sich selbst vorsorgen. Ein schlanker Staat, der weniger für Soziales ausgibt, nur in Notfällen einspringt.

Was blieb davon bis heute ?

Die Nettoersatzrate in der Arbeitslosenversicherung wurde von 57,9 auf 55 Prozent gekürzt. Vor allem aber gab es einschneidende Änderungen im Pensionssystem. Die Regierung Schüssel wich vom Grundsatz ab, dass das staatlich geregelte Sicherungssystem den Lebensstandard im Alter sichern soll. Das Pensionssystem wurde in ein Drei-Säulen-System umgebaut: das gesetzlich geregelte Pensionssystem; die ‚Abfertigung neu‘, die auch als Pensionsanspruch ausgezahlt werden kann; und als dritte Säule die Zukunftsvorsorge.

Welche Folgen hatte das?

Das gesetzliche System wurde in seinen Leistungen eingeschränkt. Das bedeutet Kürzungen für alle, die keine 45 Versicherungs- und Beitragsjahre bis zum Alter von 65 Jahren gesammelt haben. Nur wer diese Bedingungen erfüllt, erhält eine Pension von 80 Prozent des Lebensdurchschnittseinkommens. Durch diese Lebensdurchrechnung haben beispielsweise jene mit atypischer Beschäftigung wie Teilzeit beträchtliche Einschränkungen zu erwarten. Das sollte zwar durch die Abfertigung und die Zukunftsvorsorge ausgeglichen werden. Letztere aber können sich viele nicht leisten. Deshalb führt das insbesondere bei Frauen zu niedrigeren Pensionen. Kurz-Strache schrieben das fort - weniger, weil diese Regierung hier nicht noch mehr kürzen wollte, sondern es kaum mehr etwas zu kürzen gab.

Was es aber gab, ist die Kassenreform.

Ja, in der Sozialversicherung gab es einschneidende Änderungen bei der Selbstverwaltung. Seit 1888/89, als die ersten Sozialversicherungseinrichtungen entstanden, gab es immer eine Mehrheit der Dienstnehmer im Entscheidungsgremium. Erst von der Regierung Kurz-Strache wurde Parität zwischen Dienstgeber- und Dienstnehmervertretern eingeführt. Während die Unternehmerseite politisch geschlossen ist, ist es jene der Vertreter der Beschäftigten aber nicht. Bei den Dienstnehmern ist auch die ÖVP-nahe Fraktion Christlicher Gewerkschafter vertreten. Im Frühjahr stimmte diese mit den Unternehmen mit. Es zeigt sich also, dass die Parität nur eine formelle, keine reale ist. Noch gab es keine Änderungen im Leistungskatalog. Da werden Menschen das dann merken - und auch in der Finanzierung.

Bei Selbstständigen, insbesondere Einpersonenunternehmen, zeigt sich ja eine Lücke: Ohne unselbstständige Beschäftigung davor erhält kaum jemand Arbeitslosengeld. Braucht es da nicht mehr Sozialstaat?

Das Instrument der freiwilligen Arbeitslosenversicherung gibt es ja schon, es wird nur zögerlich in Anspruch genommen. Die Frage wird sicher in den Blick geraten, wenn viele Kleingewerbeunternehmen und Einpersonenunternehmen zusperren müssen. Vor allem Letztere haben oft ja nicht das Geld, sich das leisten zu können. Eine Lösung wäre eine Mindestsicherung, aber wie erwähnt, mit höherem Niveau.

Ist aber die jetzige Krise die richtige Zeit, das zu ändern?

Wir wissen noch nicht, wie lange die Pandemie dauert. Wenn sie aber vorbei ist, steht die Frage an: Wer zahlt? Wer wird diese Kosten tragen? Der Sozialstaat wird bei der Antwort vermutlich wieder eine Rolle spielen, weil der Anteil der öffentlichen Sozialausgaben mehr als 50 Prozent ausmacht.

Der Sozialstaat ist ja noch durch andere Entwicklungen herausgefordert?

Vor der Coronakrise hat sich durch schwaches Wirtschaftswachstum und Arbeitslosigkeit der Druck auf den Sozialstaat bereits erhöht. Die Folge sind wachsende Verteilungskonflikte. Weiters ist der Alterungsprozess für das Pensionssystem sowie Gesundheit und Pflege eine enorme Herausforderung. Ein dritter Punkt liegt in den Veränderung der Erwerbsarbeit, in mehr Arbeitslosigkeit und der Atypisierung der Arbeit. Einen vierten Punkt sehe ich in der sozialen Schieflage, der Ausgrenzung und Verarmung, Spannungsverhältnissen durch Migration. Und natürlich die Finanzierung des Sozialstaates.

Haben sie eine Lösung für die Finanzierung ohne Kürzungen?

Ohne die Entlastung des Faktors Arbeit wird es nicht gehen. Das wäre mit einer Wertschöpfungsabgabe möglich, bei der die Beiträge der Unternehmen zur Sozialversicherung nicht nur von der Lohnsumme abhängen, sondern auch von Mieten, Pachten und Gewinnen. Wissen Sie, wer der Erste war, der das gefordert hat? Ein Zitat von ihm: "Es ist auf Dauer nicht haltbar, dass die Kosten der notwendigen sozialen Fürsorge nur die tragen, die Arbeiter beschäftigen." Es war nicht der Gewerkschafter Alfred Dallinger, es war Engelbert Dollfuß, der das in der Trabrennplatzrede im September 1933 gesagt hat. Also kein böser Roter.

Haben Sie nicht die Sorge, dass zu viel Sozialstaat ein Nachteil für den Wirtschaftsstandort ist?

Das hat bisher schon nicht gestimmt, dafür gab und gibt es auch weiterhin keine Belege. Das Argument kenne ich als Interessenspolitisches.Der gut ausgebaute Sozialstaat hat die Wirtschaft nicht umgebracht, sondern sie enorm unterstützt. Von den 50ern weg bis in die 80er hinein, in der der Sozialstaat seine Hochblüte hatte, hatte auch die Wirtschaft ihre Hochblüte. Der Sozialstaat selbst trägt über die Leistungsbeziehenden, die konsumieren, zum Wohlergehen der Wirtschaft bei.

Neuauflage~