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Stacheldraht auf dem Schulweg

Von Peter Hansen

Politik

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Stellen Sie sich den politischen Aufruhr vor, wenn jeder Schüler in London einen Monat lang keinen Unterricht erhält, weil die Lehrer nicht in ihre Klassen kommen können. Denken Sie an den Ärger und die Aufregung der Eltern, wenn in Paris anstelle von 71 Prozent plötzlich nur mehr 38 Prozent der Schüler französische Sprachprüfungen bestehen. Nun stellen Sie sich Ihr eigenes, von Angst traumatisiertes Kind vor, das auf seinem Schulweg jeden Tag Panzer, Kontrollstellen und Soldaten passieren muss. Dieser Albtraum ist Realität für palästinensische Eltern, Lehrer und ungefähr eine Million Schüler - das ist die Schülerzahl einer größeren europäischen Hauptstadt - im Westjordanland und im Gazastreifen nach zwei Jahren Intifada.

Die Hauptgründe für diese Krise im Erziehungswesen sind Ausgangsperren und Gebietsabriegelungen, von israelischen Behörden verhängt im Versuch, militanter Palästinenser Herr zu werden. Diese Maßnahmen lähmen die Erziehungsprogramme der Palästinensischen Autonomiebehörde (PA) und der Vereinten Nationen. Die Vereinten Nationen verwalten im Rahmen ihrer Fürsorge- und Arbeitsbehörde für palästinensische Flüchtlinge (UNRWA) 264 Schulen für fast 250.000 Schüler im Westjordanland und im Gazastreifen. Letztes Jahr wurde durchschnittlich an 29 Schultagen nicht unterrichtet, weil das Personal und die Schüler die Schulen nicht erreichen konnten. Insgesamt gingen 72 000 Lehrer-Arbeitstage verloren, Prüfungen konnten nur abgehalten werden, wenn Ausgangsperren aufgehoben wurden; und die Sommerschulen -eingerichtet, um Kindern eine sichere Umgebung zu bieten - wurden kaum besucht.

Dieses Jahr könnte sich die Situation noch verschlimmern. Seit dem Schulbeginn am 31. August waren schon 36 Schulen der Vereinten Nationen im Westjordanland für zwei bis 15 Tage geschlossen. Schulen in Nablus sind so schwer zu erreichen, dass einige Lehrer nur aufgrund telefonischer Vorstellungsgespräche eingestellt wurden und ihre Vorgesetzten erst persönlich treffen werden, sobald sie zum ersten Mal zur Arbeit kommen können.

Geschlossene Schulen sind aber nur ein Teil der Geschichte. Bei militärischen Einsätzen, meistens von Israel, aber manchmal auch von palästinensischen Splitterparteien durchgeführt, wurde die Schutzzone von Schulen in besetzten Gebieten verletzt. Viele Schulen wurden als Internierungslager benutzt, ungefähr 200 durch Geschützfeuer beschädigt. Über 170 Studenten wurden festgenommen. Nach einem in diesem Monat erschienenen Bericht von amnesty international wurden seit September 2000 250 palästinensische Schulkinder getötet.

Für Kinder ist es nicht ungewöhnlich, auf dem Schulweg von israelischen Soldaten angehalten und durchsucht zu werden. Manchmal sind sie auch Tränengas und Warnschüssen in der Nähe von Kontrollstellen ausgesetzt.

Diese furchteinflößende Umgebung hat sich auf palästinensische Kinder verheerend ausgewirkt. Prüfungen in Arabisch und Mathematik werden kaum noch bestanden, die Ausstiegsrate aus den Schulen steigt zum ersten Mal seit einem Jahrzehnt wieder an. Es kommt vor, dass Schüler Lehrer angreifen - etwas vor kurzem noch Undenkbares. Lehrer berichten zunehmend von Anzeichen der Traumatisierung.

Das UNRWA hat begonnen, Berater zu beschäftigen, die Kindern Mut machen, ihre Erfahrungen zu teilen; hat seine Förder- und Sommerschulprogramme wieder angekurbelt und sein Schuljahr verlängert, um die schlimmsten Auswirkungen des Konflikts zu entschärfen. Trotzdem zeigt sich immer deutlicher, dass palästinensische Kinder doppelt für die Krise im Westjordanland und Gazastreifen bezahlen müssen.

Mit dem Verlust ihrer Sicherheit, Unschuld und Erziehung haben sie bereits bezahlt. Aber sie werden auch mit ihrer Zukunft bezahlen. Sie werden mit dem Verlust von Möglichkeiten, Entwicklung und Hoffnung bezahlen, die nur eine fundierte Ausbildung geben kann.

Das ist eine Tragödie für das palästinensische Volk, das mit so vielen Benachteiligungen fertig werden muss und das traditionell viel Wert auf eine gute Erziehung gelegt hat. Die palästinensische Alphabetisierungsrate gehörte zur höchsten in der Region. Palästinensische Mädchen waren die ersten in der arabischen Welt, die in der Erziehung den Jungen gleichgestellt wurden. Dies bedeutete, dass palästinensisch ausgebildete Ingenieure mithalfen, die Golfregion aufzubauen und dass von palästinensisch ausgebildeten Ärzten Gemeinden von Kalifornien bis nach Kairo profitierten.

Es ist unbedingt nötig, dass die israelischen Behörden anfangen, Ausgangsperren über palästinensischen Gemeindezentren aufzuheben und keine Gebiete mehr abzuriegeln, um palästinensische Kinder vor noch mehr Schaden zu bewahren. Israel geht es natürlich um die Sicherheit - amnesty vergisst auch die 72 israelischen Schulkinder nicht, die seit Beginn der neuen Intifada getötet wurden -, aber ich kann nicht glauben, dass dieses Sicherheitsbedürfnis befriedigt ist, wenn man Generationen palästinensischer Kinder das Recht auf ihre Zukunft entzieht.

Peter Hansen ist General-Beauftragter der UNO-Fürsorge- und Arbeitsbehörde für palästinensische Flüchtlinge (UNRWA)