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"Tuomiokirkko" heißt Domkirche: Mindestens dieses eine Wort Finnisch könnte man lernen; ist es doch nicht unwichtig, um sich in Turku zu bewegen.
Stolz und wuchtig ragt die Fassade der großen Backsteinkirche in den Himmel, ein echter Orientierungspunkt. Die Domkirche ist nicht nur Turkus Wahrzeichen, sondern gar Nationalheiligtum des ganzen Landes. 30 Brände, die seit dem Mittelalter das Gesicht der ältesten finnischen Stadt immer wieder verwüsteten und veränderten, konnten "Tuomiokirkko" beschädigen, aber nicht vernichten.
Hinter dem Dom ist der Himmel von einem intensiven metallischen Blau - es ist neun Uhr abends und jetzt im Spätsommer noch hell, wenn man sich auch in Finnland vom Licht des Sommers zu verabschieden beginnt.
Eine fröhliche Stadt
Vom großen Platz vor der Domkirche ist man gleich auf der Brücke, die über den Fluss Aurajoki führt. Viele fremdländische Gesichter - Touristen im Kulturhauptstadtjahr? "Eher nicht", erklärt Irma Müller-Nienstedt, 64, die in den 1950er Jahren in Turku aufwuchs, "inzwischen kommen große Gruppen aus Somalia, aus Vietnam ins Land, Turku hat sich geöffnet - hier geht es leichter und fröhlicher zu als früher. Das Leben selbst ist leichter geworden!"
Irma Müller-Nienstedt, die selbst schon lange nicht mehr in Finnland lebt, meint damit vor allem die ökonomische Entwicklung ihres Landes in den letzten 40 Jahren. Hatte doch sie selbst einst Finnland verlassen, weil es dem Land wirtschaftlich schlecht ging: 1979 bekam die junge Humangenetikerin in der Schweiz eine Stelle, die ihrer Qualifikation entsprach.
In den letzten Jahrzehnten aber präsentiert sich Finnland, das Jahrhunderte lang gegenüber seinem großen Nachbarn Schweden die Position des ärmeren, unterlegenen Landes innehatte, selbst als wirtschaftlich starkes Land; auch seine touristische Attraktivität ist stetig gewachsen. In diesem Jahr nun steht Turku mit einem Gesamtbudget von 50 Millionen Euro als Europäische Kulturhauptstadt auf der internationalen Bühne.
Im Beisein von 60.000 Gästen war das Festjahr eröffnet worden - mit den drei Sommermonaten Juni, Juli und August ist die Hochsaison, die mit Opern, Musicals, Ausstellungen und einer großen Segelregatta gefeiert wurde, vorüber. Mehr als eine Million Touristen - vor allem aus Finnland, Schweden, Russland, Deutschland und Großbritannien - stürmten Turku in diesen Monaten.
Das schwedische Erbe
Am Fluss Aurajoki begann einst die Geschichte der im Mittelalter blühenden Handelsstadt. Große Schiffe liegen hier vertäut am Ufer. Mehr als drei Kilometer kann man hier am Fluss entlang promenieren.
Etwas weiter liegt ein ungewöhnliches Museum: Aboa Vetus, altes Turku, führt direkt hinein in die alte Geschichte der Stadt. Schon 1280 war die erste Siedlung am Fluss gegründet worden; ab 1284 war "Abo" - Turkus schwedischer Name - wesentlicher Stützpunkt des schwedischen Grossherzogtums. Im Aboa Vetus läuft man ein paar Treppen hinunter in die Erde, wo auf 1200 Quadratmetern das verschüttete Turku des Mittelalters ausgegraben und zugänglich gemacht worden ist: alte Häuser und Wege, ergänzt durch Glaskästen an den Wänden, in denen einige der 37.000 Fundstücke gezeigt werden.
Hier das Skelett eines Hundes, dort Schädel von Schafen, die früher auf den mit Gras bewachsenen Hausdächern weideten. Fasziniert läuft man durch diesen eindrücklichen Rest der einstigen zweitgrößten Stadt Schwedens und bedeutenden Handelsmetropole, in der deutsche und schwedische Kaufleute niederländisches Tuch gegen finnische Pelze tauschten und die Finnisch sprechende Dienerklasse befehligten.
Gemessen an der jahrhundertelangen schwedischen, später dann russischen Herrschaft, ist das freie Finnland blutjung: noch keine 100 Jahre ist es her, dass es 1917 seine Unabhängigkeit erklärte. Schweden ist präsent geblieben. "Es ist unsere zweite Sprache, und deshalb ganz nah", sagt Irma Müller-Nienstedt. Nicht nur sind 5,2 Prozent der Einwohner von Turku Schweden; die Stadt beherbergt neben der finnischen Universität auch eine schwedischsprachige, die Abo-Akademie.
Neuer Wohlstand
Irma Müller-Nienstedt wuchs im Turku der Nachkriegsjahre auf; in einem jener schönen alten Holzhäuser, mit denen manche Stadtviertel noch reich versehen, die aber andernorts völlig beseitigt sind. "Mein Elternhaus steht nicht mehr", sagt die jüngste Tochter einer finnischen Mutter und eines deutschen Musikers aus Leipzig, der in Finnland die ersten Schulorchester gründete. "Damals war Finnland arm - man lebte bescheiden."
Läuft man heute durch die Stände der Fisch- und Blumenhändler, Bäcker und Metzger, die ihre Ware an sechs Tagen in der Woche auf dem Markt oder in der schönen alten Markthalle anbieten, ist davon nichts mehr zu spüren. Neben finnischen Spezialitäten wie den aus Roggen und Reis gebackenen, schiffchenartig geformten Piroggen, Fisch oder den sahnigen finnischen Windbeuteln können auch thailändische Frühlingsrollen erstanden werden.
Leider ist aber auch von der schönen Architektur nichts mehr zu sehen. Der Marktplatz - finnisch "Tori"- ist bis auf ein paar Ausnahmebauten von hässlich-funktionalen Bauten umstanden und zeugt vom Bauboom der 1960er Jahre, dem eine Abrisswelle vorausging, über die man heute nur den Kopf schütteln kann.
Viele der schönen alten Straßenzüge gingen verloren - Jugendstilbauten ebenso wie manches, was von der ursprünglich aus Holz gebauten Stadt noch übrig war. Im Wesentlichen stammt Turkus architektonische Gestalt aus drei Phasen: Neben viel Neoklassizismus und Jugendstil haben die 60er Jahre eine deutliche Spur hinterlassen.
Der große Brand
Aber wo ist das mittelalterliche Turku geblieben? Tatsächlich - will man etwas sehen, das aus noch älterer Zeit stammt, bleiben neben der mittelalterlichen Burg und dem Dom nur das sogenannte "Handwerksmuseum", ein kleines, zum Freilichtmuseum umgewandeltes Stadtviertel niedriger Holzhäuser, in dem im Sommer Handwerker arbeiten. Nichts hat so markant in die Stadtgeschichte und ins architektonische Bild von Turku geschnitten wie der verheerende Brand von 1827, nach dem fünf Sechstel von Turku in Schutt und Asche lagen.
"Turku brennt!" heißt denn auch das Motto, unter dem die zentrale Ausstellung zur Stadtgeschichte steht. "Logomo" ist ein ehemaligen Eisenbahnwerk, dessen Hallen Platz bieten für die lebensechte Nachbildung einer Gasse vor und nach dem großen Brand - es raucht noch aus den Häusern, die Erde ist noch warm, aber das Holz schwarz, die Menschen fort. Mit viel Aufwand wird an einer großen Modell-Stadt oder mit Hilfe von Videoinstallationen versucht, das Thema Feuer zu gestalten. An einer Hausfassade kann man selbst die Pumpe eines alten Löschwagens in die Hand nehmen und versuchen, den Wasserstrahl an die Wand zu richten. 130.000 Besucher haben bis jetzt die Ausstellung gesehen, die ins Bewusstsein ruft, dass Turkus Stadtgeschichte in eine Zeit "vor" und "nach" dem Brand zerfällt.
Wichtiger aber für die Menschen heute ist eine andere Unterteilung ihrer Stadt: die in "Drinnen" und "Draußen", in Stadt und Schären. Das Umland der 20.000 Inseln und Inselchen ist das, was Turku vor allem auszeichnet. Wie die meisten finnischen Kinder erinnert sich Irma Müller-Nienstedt an diese Inselsommer. Als junge Frau entdeckte sie Kälö - eine kleine Insel, mit Bus und Fähren und schließlich einem Inselbötchen drei Stunden von Turku entfernt.
Insel-Existenzen
Ist man einmal dort, fühlt man sich endlos entfernt von den Zeit- und Rauumverhältnissen der Stadt. Nur sieben Häuser, aus dunkelrotem Holz und weißen Fensterläden, liegen zwischen den hügelig-felsigen Untergrund gestreut, der die Insel wie eine Elefantenhaut überzieht. Sie ist mit Wacholder und Heide bewachsen, Birken, Eschen und Erlen machen die Insel grün. Das Wasser wird aus der Zisterne geholt, die Toilette ist an keine Kanalisation angeschlossen.
Als Irma Müller-Nienstedt 1975 das Sommerhäuschen kaufte, gab es schon niemanden mehr, der das Jahr hindurch auf der Insel lebte. Aber die Erinnerung daran ist auch heute noch wach: Nachbar Olle Öblom, 65, lebt mit seiner Frau Annemei im Haus der Schwiegereltern.
Annemei Öblom ist auf der Insel aufgewachsen, als die Eltern sich vom Fischen und der Landwirtschaft ernährten. Heute leben die Öbloms, die wie viele Schärenbewohner nur Schwedisch und kein Finnisch sprechen, in Stockholm. Kälö ist eine Sommerdestination für sie geworden. Zwar legen sie Netze aus, aber die Barsche darin reichen gerade fürs eigene Abendessen.
Die Stille ist unfassbar, die Wälder mit sumpfigem Boden, moosüberzogenen Steinen und Blaubeerbüschen sind reine Zauberwälder. Imma Müller-Nienstedt hat einen Roman geschrieben, der in dieser magischen Inselwelt spielt. Filmemacherin Lotta Petronella, die einen mittlerweile preisgekrönten Dokumentarfilm über Frauen auf den Schären gedreht hat und jetzt ein großes Schären-Kunstprojekt im Kulturhauptstadtjahr kuratiert, ist seit Jahren fasziniert von den Inseln und ihren Bewohnern: "Die Leute auf den Schären sind ungemein kreative Individualisten."
Blick nach Tallinn
Meermenschen, Inselvolk: Stellte doch überhaupt die Ostsee, dieses kleine, durch seine Abgeschlossenheit besonders gefährdete Meer, ein Zentrum der Aufmerksamkeit im Kulturhauptstadtjahr dar. Quer durch die Ostsee läuft auch die Verbindung zur anderen Kulturhauptstadt, Tallinn: Nie zuvor hatten zwei Kulturhauptstädte so nah beieinander gelegen.
Zum Abschluss des Kultursommers wurde am letzten Augustwochenende ein Zeichen gesetzt, das ganz symbolisch ums Meer herum lief: Das "traditionelle Leuchtfeuer", ein schon seit fast 20 Jahren wiederbelebtes Zeichen der Verbindung der Ostseeanrainer. Mehr als 500 Lichter entbrannten rund ums Meer herum.
Turku brennt - Turku entbrennt: Mit der doppelten Bedeutung des Wortes, auch im Finnischen, soll Turkus "Feuer" ins Licht gerückt werden. Dass das Licht für einen symbolischen Moment das Meer umrahmte, war ein so schönes wie passendes Zeichen. Liegt doch das, was Turku unvergleichlich macht, wirklich in der geheimnisvollen Schönheit seiner Tausenden Inseln und seiner engen Anbindung ans Meer.
Bernadette Conrad, geboren 1963, lebt als Journalistin in Konstanz (Literatur- und Theaterkritik, Reisereportagen, Schriftstellergespräche).
Turku und Tallinn
Der Titel "Kulturhauptstadt Europas" wird alljährlich von der Europäischen Union vergeben, um auf den kulturellen Reichtum Europas hinzuweisen. Heuer tragen die Ostsee-Städte Turku und Tallinn diesen Titel, und in beiden Orten sind die Festivals, Ausstellungen und Events, die zu einem Kulturhauptstadtjahr dazugehören, in vollem Gang.
Turku und Tallinn liegen nur knapp 200 km voneinander entfernt. Deshalb konkurrieren die Kulturhauptstadtprogramme der beiden Städte auch nicht miteinander, sondern verfolgen die erklärte Absicht, einander zu ergänzen.
Mehr unter:
www.turku2011.fi/en
www.tallinn2011.ee