Vor 20 Jahren zogen die ersten Bewohner aufs Freiburger Rieselfeld, wo nun das letzte Bürohaus fertig wird. Der Stadtteil zeigt, wie eine urbane und nachhaltige Stadterweiterung gelingen kann.
Hinweis: Der Inhalt dieser Seite wurde vor 7 Jahren in der Wiener Zeitung veröffentlicht. Hier geht's zu unseren neuen Inhalten.
Wien wächst - und errichtet auf alten Bahn- und Gewerbeflächen ebenso wie am Stadtrand ein Neubauviertel nach dem anderen. In der Seestadt Aspern wird erstmals seit langem wieder probiert, dabei ein urbanes Gebilde statt einer Ansammlung von Wohn- oder Gewerbebauten zu schaffen.
Auch Graz wächst - und versucht sich insbesondere auf den Reininghaus-Gründen in zukunftstauglichem Städtebau. Damit solches gelingt, bedarf es freilich mehr als ein paar guter planerischer Ideen und löblicher politischer Absichten. Es braucht den Bruch mit jenen Strukturen und Usancen, welche die Stadterweiterungsgebiete der letzten Jahrzehnte zu den öden, monofunktionalen und autoabhängigen Vierteln gemacht haben, die wir heute beklagen. Modelle dafür gibt es bereits in jeder Größenordnung - und wenn man sie für Städte wie Graz, Linz, Salzburg oder Innsbruck sucht, findet man ein probates im baden-württembergischen Freiburg im Breisgau.
Die heute 230.000 Einwohner zählende Universitätsstadt litt ab den 70er Jahren unter steter Abwanderung junger Familien ins Umland. "Es war klar, dass Freiburg diesem Schwund entgegensteuern musste und am besten noch einen Teil der abgewanderten Bevölkerung in die Stadt zurückholen sollte", erinnert sich Bauingenieur Klaus Siegl, der damals vom Stadtplanungsamt in das Umweltschutzamt gewechselt war. Als Standort für eine Erweiterung bot sich das stadteigene Rieselfeld am Westrand Freiburgs an, wo bis in die 80er Jahre die Haushaltsabwässer der südwestlichen Viertel verrieselt wurden.
Politische Absicherung
Doch stand das 320 Hektar große Gelände inzwischen unter Landschaftsschutz, weshalb im Gegenzug für die geplante Verbauung von 70 Hektar der Rest unter restriktiveren Naturschutz gestellt wurde - und für den neuen Stadtteil besondere ökologische Ziele galten: Vorrang für öffentlichen Verkehr und Fahrräder, Nutzung regenerativer Energien, flächendeckende Fernwärmeversorgung.
Als bedeutendste Weichenstellung wurde ein politisches Gre-mium mit Vertretern aller Fraktionen des Freiburger Gemeinderats und später auch der Bewohner des neuen Stadtteils konstituiert, das alle paar Monate - insgesamt 70 Mal - ausschließlich wegen des Rieselfelds zusammentraf; außerdem wurde eine städtische, ämter- und dezernatsübergreifende Projektgruppe zur Planung und Realisierung der Stadterweiterung eingerichtet.
Durch die kontinuierliche Befassung aller Parteien mit dem Rieselfeld wurde verhindert, dass das Projekt zum Gegenstand tagespolitischer Ränkespiele wurde. Die interdisziplinäre Projektgruppe wiederum verhinderte die sonst üblichen Widersprüche und Reibungsverluste innerhalb einer Stadtverwaltung - und versammelte 18 Jahre lang sämtliche Kompetenzen einer Behörde, aber auch einer Entwicklungsgesellschaft in einer Hand: von den gesamten Planungen über die Grundstücksvergabe und die Qualitätskontrolle aller Baumaßnahmen bis hin zum Stadtteilmarketing. Ihr oblag selbst der Verkauf der Liegenschaften, dessen Erlöse die öffentlichen Investitionen am Rieselfeld mitfinanzierten.
Klaus Siegl wurde zum Leiter dieser Task-Force bestellt: "Die Basis war das ernsthafte Bekenntnis aller Entscheidungsträger zur gleichwertigen Behandlung der ökologischen, sozialen und kulturellen Aspekte mit den städtebaulichen und ökonomischen Belangen." Darauf aufbauend, konnten die Planer ihr Ziel eines urbanen Stadtteils mit entsprechender Dichte konkret weiterverfolgen: eines Quartiers mit bis zu fünfgeschoßiger Bebauung ohne Trennung von Wohnen und Arbeiten, mit dezentraler Nahversorgung, vollständiger öffentlicher Infrastruktur, hochwertigen Freiräumen zur gemeinschaftlichen Nutzung, mit sanfter Mobilität und energetischer Effizienz - und das alles für eine sozial heterogene Bevölkerung.
Bauliche Vielfalt
Der aus einem Wettbewerb hervorgegangene Entwurf sah eine zentrale Achse mit einer Stadtbahn in der Mitte sowie zu beiden Seiten eine Blockrandbebauung vor, die nach außen hin in Zeilenbauten und Punkthäuser übergehen sollte. "Wir wollten bewusst verschiedene Bauformen mit vielfältigen Gebäudetypologien haben, damit ganz unterschiedliche Zielgruppen zusammenfinden - seitens der Nutzer, aber auch der Investoren", begründet der inzwischen pensionierte Projektleiter Siegl das Konzept. So waren von den 4200 Wohnungen ursprünglich 50 Prozent als geförderte Mietwohnungen sowie je 25 Prozent als freifinanzierte Mietwohnungen und Eigentumswohnungen geplant. 1998 aber, also zwei Jahre nachdem die ersten Bewohner am Rieselfeld eingezogen waren, stellte das Land Baden-Württemberg seine Subventionen für den sozialen Wohnbau auf Eigentumsförderung um; gleichzeitig sorgte die deutsche Bundesregierung für steuerliche Verschlechterungen im freifinanzierten Mietwohnungsbau - womit quasi über Nacht 75 Prozent des angestrebten Zielpublikums wegbrachen.
Als Reaktion darauf setzte das Team um Klaus Siegl intensiv auf Baugruppenprojekte, um dennoch die gewünschte Durchmischung an Wohnformen und Kostenkategorien zu erzielen - mit dem Erfolg, dass heute über 90 Baugruppen mit mehr als 800 Wohneinheiten den Stadtteil prägen.
Vielfalt initiierten die Projektentwickler auch durch ihr Beharren auf Kleinteiligkeit. So vergaben sie ausschließlich Parzellen mit nur 16 bis maximal 24 Metern Breite und beschränkten im Wohnbau die Größe auf 40 bis 50 Wohnungen. "Erst am Schluss ließen wir in einigen Bauten mit überwiegend kleinen Wohnungen etwas mehr zu", präzisiert Klaus Siegl die Vorgaben, die auch für gewerbliche Bauten galten. So verteilen sich die etwa 1000 Arbeitsplätze, deren letzte in diesem Jahr entstehen, auf rund 120 Arbeitsstätten, sodass ein Rieselfelder Betrieb im Schnitt weniger als zehn Mitarbeiter zählt - und kein Baublock von nur einer Nutzung bestimmt ist.
Freilich waren nicht alle Bauherren von Anfang an gewillt, von den herkömmlichen Strategien und Dimensionen der Stadtteilentwicklung abzugehen. Auch Freiburger Investoren möchten entweder Wohn- oder aber Büro- und Gewerbebauten realisieren, und das in möglichst großen Einheiten. "Wir hatten jedoch das Ziel, nicht bloß Grundstücke zu verkaufen, sondern Strukturen zu vermarkten", erklärt Siegl.
Dezentrale Struktur
Die städtischen Entwickler fragten jeden interessierten Investor, was er bauen wolle, und schlugen ihm dann Standorte vor, wo sein Projekt am besten hinpasse. So steht am Rieselfeld heute ein multifunktionales Haus mit Büros, Wohnungen und einer Krankenpflegeschule zwischen einem sozialen Mietwohnungsbau und einem Baugruppenprojekt. Dem Ziel einer dezentralen Struktur folgend, wurde auch ein projektiertes Einkaufszentrum in der Frühphase der Entwicklung zurückgestellt, damit sich die Erdgeschoßzonen entlang der Rieselfeldallee, der Hauptachse des Viertels, füllten. Erst als am Rieselfeld 7000 Menschen lebten, wurde in der Mitte des Quartiers ein Standort für einen größeren Supermarkt ausgewiesen.
Natürlich vergingen auf diese Weise bei manchen der bis zu 70 mal 130 Meter großen Baublöcke ganze zehn Jahre, vom ersten bis zum letzten Haus. Die Strategie der kleinen Schritte ermöglichte es aber, auf Erfahrungen in jedem einzelnen Baublock zu reagieren und etwaige Fehler kleinräumig zu korrigieren. Als "Prinzip der lernenden Planung" bezeichnet Siegl den Freiburger Weg. Ein Produkt dieses umfassenden Verständnisses von Planung sind die Blockinnenbereiche am Rieselfeld. Jeder Grundeigentümer musste den unbebauten Teil seiner Parzelle für eine gemeinschaftliche Gestaltung und Nutzung der Höfe zur Verfügung stellen. So entstand durch Vernetzung von insgesamt 21 offenen Höfen ein stadtteilweites, für alle zugängliches Patchwork privater Freiräume - ohne auch nur eine wahrnehmbare Grundstücksgrenze. Anstelle Dutzender, immer gleicher Kinderspielplätze Block für Block findet man am Rieselfeld vier große Spielplätze, die deutlich mehr bieten als üblich.
Soziale Aktivitäten
Komplettiert wird das Grünraumsystem durch großzügige öffentliche Freiräume, allen voran durch den Hauptplatz mit der Kirche und dem multifunktionalen Gemeinschaftszentrum "glashaus" - sowie im Anschluss daran durch einen großen Park, entlang dessen sich Grundschule, Gymnasium und ein großer Sportkomplex aneinanderreihen.
"Die soziale und kulturelle Infrastruktur am Rieselfeld wurde so früh wie möglich errichtet", erklärt Klaus Siegl deren Wichtigkeit für ein von Anfang an funktionierendes Zusammenleben in einem Neubauviertel, "und auch die Stadtbahn fuhr bereits ein Jahr nach Einzug der ersten Bewohner durch die Rieselfeldallee - was die Attraktivität des Quartiers zusätzlich erhöht hat." Allerdings, so Siegl, werde der Stadtteil nun "vom Fluch der guten Tat" eingeholt, zumal die Lebensqualität am Rieselfeld mittlerweile die Wohnungs- und Mietpreise habe kräftig steigen lassen.
Dennoch darf das Projekt ohne Einschränkung als modellhaft eingestuft werden, zumal es offensichtlich gelungen ist, unterschiedlichen Bevölkerungsgruppen "Lust auf Stadt" zu machen.
Neben Urbanität punktet das Viertel auch mit ökologischen und sozialen Attributen. So ist es Deutschlands erster Stadtteil, der komplett in Niedrigenergiebauweise realisiert wurde. Sämtliche Gebäude sind barrierefrei erreichbar, und auf allen Straßen gilt eine kindersichere Höchstgeschwindigkeit von 30 km/h. Das Gemeinschaftsleben gleicht jenem in einem funktionierenden Dorf: Mehr als ein Drittel der Bewohner ist in Sportvereinen engagiert, es gibt eine Freiwillige Feuerwehr - und das "glashaus" als bürgerschaftlich betriebenes soziokulturelles Zentrum.
Der vielleicht größte Erfolg ist aber, dass 25 Prozent der heute 10.000 Bewohner Rückkehrer aus dem suburbanen Umland sind, die das Einfamilienhaus freiwillig gegen eine Geschoßwohnung mit Balkon und Straßenbahnanschluss eingetauscht haben.
Reinhard Seiß ist Stadtplaner, Filmemacher und Fachpublizist in Wien und Mitglied der Deutschen Akademie für Städtebau und Landesplanung.