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Stagnation, Rechtspopulismus und die Krise der Eliten

Von Thomas Seifert

Wirtschaft
Der Aufstieg von Donald Trump in den USA, die Erfolge von Rechtspopulisten in Frankreich, Großbritannien und Österreich und das Auftreten der Wutbürger sind Folgen eines immer tieferen Misstrauens der Bürger den wirtschaftlichen und politischen Eliten gegenüber, sagt Martin Wolf (r.) im Interview mit Thomas Seifert.
© Luzia Puiu

Der weltweit renommierte "Financial Times"-Wirtschaftskommentator Martin Wolf sieht Wutbürger und Rechtspopulisten als Resultat des Endes des sozialpartnerschaftlichen Nachkriegskonsenses.


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"Wiener Zeitung": Gibt gibt es einen Zusammenhang zwischen Rechtspopulismus und der ansteigenden sozialen Ungleichheit?

"Viele Bürger hegen das Gefühl, dass die Vertreter der Eliten Gauner sind", gibt Martin Wolf zu bedenken.
© Luzia Puiu

Martin Wolf: Ja, den gibt es. In Europa gab es in den vergangenen Jahrhunderten ein Ringen darum, eine stabile Form der demokratischen Politik für industrialisierte Gesellschaften zu schaffen. In der gesamten zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts und der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts sahen wir das "Demokratische Zeitalter", wie es der französische Politiker Alexis de Tocqueville genannt hat, vor unseren Augen entstehen. Und das umfasste den Wandel von absoluten Monarchien zu Staaten, in denen ein größerer Teil der Menschen Teilhabe am politischen Prozess hat. Diese Entwicklung war eine Folge von Industrialisierung und Urbanisierung, denn die Bewohner der Städte waren ein wichtiger Teil des politischen Lebens, wie es die Bauern zuvor nie gewesen waren. Aber das war ein sehr schmerzhafter Prozess, begleitet von Kriegen, massiven sozialen Verwerfungen, dem Aufstieg der Kommunisten und Nazis. Eine halbwegs befriedigende Antwort war dann mit den verschiedenen Varianten von Sozialdemokratie und der Nachkriegssynthese gefunden. Ökonomisch war das sehr erfolgreich. Das erste Mal seit dem Beginn der Industrialisierung wurden die Früchte des Wachstums ziemlich breit verteilt. Einerseits durch steigende Löhne und andererseits durch den Wohlfahrtsstaat. Der Deal lautete: soziale Sicherheit gegen hohe Steuern. Aber es war - wie sich heute zeigt - ein fragiler Deal.

Warum?

Zuerst waren die Entwicklungsländer lange Zeit nichts weiter als Rohstofflieferanten, die Industrienationen des Westens hatten gleichsam das Monopol der Industrialisierung in der westlichen Welt. Das begann sich erst in den späten 70er und frühen 80er Jahren zu ändern: Japan, Korea, Hongkong und Taiwan wurden von der Globalisierungswelle erfasst. Heute haben wir einen globalen Wettbewerb, die große Story unserer Zeit ist der Aufstieg Chinas und Indiens. Doch was sind die Folgen dieser Entwicklung? Die Industriestruktur in den westlichen Ländern wurde ausgehöhlt, die Preise sind gefallen. Eine ganze Reihe entscheidender Entwicklungen liefen parallel: der Abstieg der Arbeiterschaft in den Industrienationen. Der massiv erhöhte Preisdruck. Mehr Konkurrenz. Das Wachstum des Dienstleistungssektors, der viel schwieriger gewerkschaftlich zu organisieren ist. Die hohe Mobilität von Kapital und damit einhergehend auch die Schwierigkeit, Profite zu besteuern. Dazu bringt die Überalterung der Gesellschaft unsere sozialen Sicherungssysteme unter Druck. Unsere Fähigkeit, eine halbwegs faire Einkommensverteilung aufrechtzuerhalten, ist erodiert. Die Löhne am unteren Ende des Einkommensspektrums sind seit Jahrzehnten nicht mehr gestiegen, was die soziale Ungleichheit immer weiter auseinanderklaffen lässt. All das hat den sozialdemokratischen oder christdemokratischen Konsens - das ist im Grunde ja dasselbe - erodiert.

Welche Konsequenzen sehen Sie in dieser Entwicklung?

Die alten Institutionen sind geschwächt, die Gewerkschaften sind marode, das Gefühl von Solidarität ist verschwunden. Die Globalisierung der Wirtschaft hat die Loyalität der einst nationalen Unternehmen zu ihren Heimatländern gelockert, der nationale Kapitalismus ist einem internationalen gewichen. Noch vor 25 Jahren waren alle deutschen Unternehmen nationale Unternehmen, die in Deutschland für den deutschen und internationalen Markt produziert haben. Der Exporterfolg war somit vor allem der Erfolg der deutschen Arbeiter. Das ist heute nicht mehr der Fall. Deutsche Konzerne produzieren überall auf der Welt. Sie haben enorme Produktionskapazitäten in Südamerika, in den USA oder Kanada oder in Asien aufgebaut. Die proletarische Elite in Deutschland, die von manchen unfairerweise als proletarische Aristokratie bezeichnet wird, hat ihre gut bezahlten Industrie-Jobs verloren.

Migration ist als weitere Form des Wettbewerbs hinzugekommen.

Migration ist eines der sichtbarsten Beispiele der Globalisierung. Die hohe Mobilität von Arbeitskräften bedeutet, dass der Besitz einer Staatsbürgerschaft kein so wertvolles Gut für die Bürger mehr ist. Manche Männer sehen auch Frauen auf dem Arbeitsmarkt wieder vermehrt als Konkurrenten. Es ist daher für mich kein Zufall, dass in Ländern wie Frankreich, den USA oder auch Großbritannien die männliche Arbeiterklasse einen wichtigen Kern der Unterstützer rechtspopulistischen Parteien bildet. Diese Menschen haben das Gefühl, von den sozialdemokratischen Parteien im Stich gelassen worden zu sein. Man kann die Sorgen dieser Menschen ja gut verstehen, ihre Position in der Gesellschaft wird prekärer, das spüren sie. Aber: Die Rechtspopulisten haben freilich überhaupt keine Antworten auf die Herausforderungen, das ist doch ganz offensichtlich.

Gibt es denn Antworten?

Ja, die gibt es. Aber die Frage wird sein, ob sie politisch machbar sind. Eine Kombination aus Mindestlohn und Lohnsubvention wäre eine Möglichkeit, dem weiteren wirtschaftlichen Abstieg der prekär beschäftigten Arbeiterschaft ein Ende zu setzen. Man wird auch über neue Instrumente der Umverteilung nachdenken müssen, einen höheren Grad an Vermögensbesteuerung bei gleichzeitiger steuerlichen Entlastung von Einkommen. Wenn wir annehmen, dass sich der Trend der Globalisierung nicht umkehrt - was für ein kleines Land wie Österreich extrem ungünstig wäre -, dann stehen die Staaten vor dem Dilemma, dass die Volkswirtschaften in das globale ökonomische System eingebettet sind, die Regierungen aber dafür verantwortlich sind, für die eigenen Bürger innerhalb der nationalen Grenzen zu sorgen. Die Regierungen müssen also ihre Steuerbasis sichern. Das kann auf zwei Arten geschehen: Entweder besteuert man immobile Dinge wie Land oder man besteuert Arbeit noch höher, was erstens unfair wäre und zweitens die Arbeitslosigkeit noch weiter erhöhen würde. Damit die einzelnen Wohlfahrtsstaaten also ihre Leistungen erhalten können, müssen sie untereinander stärker kooperieren. Sie müssen sicherstellen, dass Unternehmen, die Wohlhabenden, die gut Ausgebildeten ihre Steuern bezahlen. Das geht nur mit besserer Steuerkooperation, dem Schließen von Steuerschlupflöchern und Austrocknen von Steueroasen. Denken wir an die Finanzkrise zurück: Einer der Gründe der Weltwirtschaftskrise war die Konkurrenz der einzelnen Länder um immer weniger Finanzmarkt-Regulation. Steuerkonkurrenz ist genauso wenig wünschenswert.

Der globale Kapitalismus steckt in einer Glaubwürdigkeitskrise.

Martin Wolf in der Villa des ehemaligen SP-Bundeskanzlers Bruno Kreisky in der Armbrustergasse in Wien-Döbling.
© Luzia Puiu

Vor allem aber die Eliten. In unseren Gesellschaften sind die Beziehungen zwischen den Machteliten und dem Volk sehr stark abhängig von Konsens. Früher wurde die gesellschaftliche Ordnung durch Unterdrückung aufrechterhalten. Aber je mehr sich die Staaten zu Demokratien entwickelten, desto mehr waren die Machthaber auf Konsens angewiesen. Damit die Menschen aber die Legitimität der Eliten akzeptieren, müssen Sie von zwei Dingen überzeugt sein: Sie müssen erstens ihre politischen Führer in einem fairen Prozess aussuchen können. Und die Bürger müssen zweitens der Meinung sein, dass die Vertreter der Eliten kompetent sind. In den vergangenen zehn, fünfzehn Jahren haben die politische Klasse und die Vertreter der Wirtschaftseliten aber die Aura der Kompetenz verloren. Sie waren von den Entwicklungen in der Finanzkrise und was danach kam völlig überfordert. Zudem hegen viele Bürger das Gefühl, dass die Vertreter der Eliten nicht legitim sind, weil sie sie im Grunde für Gauner halten. Viele Bürger hegen den Verdacht, dass eine Reihe von Vertretern der Wirtschaftseliten ihr Geld durch Gaunereien und weniger durch harte Arbeit erworben haben. Natürlich, Apple-Gründer Steve Jobs oder Microsoft-Gründer Bill Gates sind damit nicht gemeint, sondern es gibt einen Generalverdacht gegen Banker und Manager. Den Vertretern der politischen Klasse wird wiederum vorgeworfen, dass sie politische Macht für ihre eigenen Interessen missbraucht haben. In den USA habe ich einen Kleber auf einer Stoßstange gesehen, auf dem zu lesen war: "Wo ist mein Bailout?" Eine gute Frage: Tausende Menschen haben in den USA ihr Haus verloren. Vor diesem Hintergrund haben es populistische Führer, die vorgeben, das nationale Interesse im Auge zu haben und die Bürger des Landes vor den Folgen der Globalisierung zu "beschützen", einfach. Donald Trump ist freilich eine sehr unplausible Figur, auf den die Enttäuschten und Unzufriedenen da ihre Hoffnung projizieren. Denn er vereint alle Charakteristika der korrupten Elite in sich. Aber die Masse hat das Gefühl, er versteht sie und tritt den Eliten ordentlich in den Hintern.

Kann Trump die Wahl gewinnen?

Ich bin kein Politikwissenschafter oder Prophet, ich weiß nicht, ob Donald Trump am 8. November die Wahl gewinnen kann. Aber ich glaube, dass seine Strategie nicht aufgehen wird: Kein anderer Politiker in den USA wird derart abgelehnt. Was ihn in den Augen seiner Fans so attraktiv erscheinen lässt, macht ihn in den Augen aller anderen extrem unattraktiv. Das gilt besonders für Frauen, die ja die Mehrheit der Wählerschaft ausmachen, für Latinos und Afroamerikaner. Freilich: Wenn es im Oktober einen furchtbaren Terroranschlag in den USA geben sollte, dann kann alles passieren, auch, dass Trump US-Präsident wird.

Wie erklärt man heute eigentlich einem Mitglied des chinesischen Politbüros angesichts der rechtspopulistischen Welle in Europa und des Donald-Trump-Phänomens in den USA, dass Demokratie trotz allem die beste Regierungsform ist?

Ich halte es da ganz mit Winston Churchill, der gesagt hat: "Demokratie ist die schlechteste aller Regierungsformen - abgesehen von all den anderen Formen, die von Zeit zu Zeit ausprobiert worden sind." Ich würde hinzufügen: Ist der chinesische Präsident Xi Jinping nicht selbst Populist? Oder wie sind das Säbelrasseln im Südchinesischen Meer, die Anti-Korruptions-Offensive plus eine Prise Xenophobie zu deuten? Wir leben in der Ära von populistischen Autokraten. Im Westen ist dieses Phänomen nicht so ausgeprägt wie in China, Russland oder der Türkei, aber auch in Europa und den USA treten solche Figuren auf die Bühne. Dennoch bin ich ein glühender Verteidiger der liberalen Demokratie. Die Unzufriedenheit der Menschen ist ein Warnsignal für die politischen Eliten. In autokratischen Systemen artikuliert sich die Unzufriedenheit lange Zeit nicht, die Machthaber ignorieren sie daher lange.

Wir befinden uns in einer Zeit der säkularen Stagnation, einer Phase von andauerndem, niedrigen Wirtschaftswachstum. Wie lebt es sich in so einer Realität?

Zuerst stellen wir uns die Frage: Sind wir zu niedrigem Wachstum verdammt? Ich befürchte, dass das das wahrscheinlichste Szenario ist. Die Demografie der Industrienationen ist einer der Gründe dafür und es fehlt in den Gesellschaften jede Akzeptanz dafür, diese Entwicklung mit einem höheren Grad an Immigration auszugleichen. Zweitens: Die Nachfrage schwächelt, daher gibt es keine Impulse, zu investieren. Drittens erleben wir seit Jahrzehnten einen Anstieg der sozialen Ungleichheit, was ebenfalls die Nachfrage dämpft. Viertens sind die Produktivitätszuwächse in den vergangenen Jahren immer niedriger und niedriger ausgefallen. In der Eurozone ist also für die kommenden Jahre ein Wachstum von 1,25 Prozent zu erwarten, in den USA vielleicht 1,75 Prozent. Und das ist viel niedriger als in den vergangenen Jahren. Die Verteilungsfrage wird in einer Welt des niedrigen Wachstums daher immer wichtiger werden. Ich kann zwei Bruchlinien erkennen: zwischen den Älteren und den Jüngeren und zwischen den Wohlhabenden und den weniger Wohlhabenden. In einer Zeit des Beinahe-null-Wachstums werden Verteilungsfragen aber zu einem Nullsummenspiel. Um jemanden Geld zu geben, muss man es zuerst jemand anderem wegnehmen. Ich fürchte, wir werden uns mit diesen Gedanken vertraut machen müssen.

Am 23. Juni stimmen die Briten über einen möglichen EU-Austritt - den Brexit - ab. Wie wird die Abstimmung ausgehen?

Vorausschicken möchte ich, dass ich befürchte, dass den britischen Bürgern die Konsequenzen eines Brexit in keiner Weise bewusst sind. Aber ich bin optimistisch: Am Ende wird Großbritannien dafür stimmen, ein Teil der EU zu bleiben. Jeder, der halbwegs Ahnung von Wirtschaft hat, ist strikt gegen einen EU-Austritt. Die Brexit-Befürworter sind doch alle durch den Wind. Ärgerlich ist, wie unnötig dieses Referendum ist. Es gab nicht den geringsten Grund, diese Abstimmung anzusetzen, außer dass Premier David Cameron ein Problem mit den Euroskeptikern innerhalb seiner Konservativen Partei lösen wollte. Wenn man aber in Großbritannien vernünftig über die Rolle des Landes in der EU nachdenkt, muss man sich folgende Frage stellen: Ist die derzeitige Situation Großbritanniens okay? Ja. Verursacht uns die EU großen Schaden? Natürlich nicht. Glauben wir, dass der frühere Londoner Bürgermeister und Brexit-Befürworter Boris Johnson und anderen auch nur die entfernteste Idee haben, was sie besser machen könnten? Die Antwort ist ein klares Nein.

Wäre ein Brexit für den Finanzplatz London eine Katastrophe?

Absolut. Ich weiß nicht, was den früheren Bürgermeister Boris Johnson geritten hat. Vermutlich hat er einfach keine Ahnung von Wirtschaft. Was Johnson aber weiß: Er möchte David Cameron als Premierminister beerben. Und wenn sein Vehikel dafür der Brexit ist, dann ist ihm das auch recht.

Martin Wolf (geb. 16. März 1946 in London) ist Chef-Kommentator der Financial Times und gilt als einer der weltweit einflussreichsten Wirtschaftsjournalisten. Wolf wurde 1946 als Sohn jüdischer Flüchtlinge in London geboren. Wolfs Vater Edmund Wolf war ein aus Wien stammender Theaterautor, Journalist und Filmemacher, der vor Beginn des Zweiten Weltkrieges nach England emigrierte. Seine ne holländische Mutter verlor mehrere Familienangehörige im Holocaust.

Martin Wolf studierte später Philosophie, Politikwissenschaft und Ökonomie an der Universität Oxford. Nach dem Studium ging er 1974 zur Weltbank, 1981 wechselte er als Direktor zum Trade Policy Research Centre nach London. 1987 kam er zur Wirtschaftstageszeitung "Financial Times", wo er seit 1990 Mitherausgeber und seit dem Jahr 1996 Chef-Kommentator ist. Er stand in den ersten Jahren für eine wirtschaftsliberale Ausrichtung, vertritt aber mittlerweile zunehmend keynesianistische Positionen.

Martin Wolf ist immer wieder Gast in Wien, zuletzt hielt er im Bruno Kreisky Forum für internationalen Dialog einen Vortrag über den zunehmenden Zorn auf Eliten und den Aufstieg des Rechtspopulismus. Sein nächstes Buch wird sich unter anderem um dieses Thema drehen.