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Stalins Truppen in Österreich

Von Barbara Stelzl-Marx

Wissen

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Soldaten der 3. Ukrainischen Front auf dem Areal der Wiener Hofburg. Die "Schlacht um Wien" dauerte vom 6. bis zum 13. April 1945.
© © CMVS

Im Jänner 1946 klagte der in Österreich stationierte sowjetische Leutnant Michail M. Žilcov, die Sowjetunion würde Europa niemals "ein- und überholen". In Österreich gebe es in jedem Haus Strom, während die Dörfer in seiner Heimat vermutlich nie elektrifiziert würden. Desillusioniert konstatierte der 27-Jährige, in Österreich "gibt es Lüster, luxuriöse Häuser, Kleidung, während meine Familie Hunger leidet und nichts anzuziehen hat".

Der Kulturschock

Die "Lobpreisungen der kapitalistischen Ordnung" blieben nicht ungestraft: Der Leutnant wurde seiner militärischen Funktion enthoben und aus der kommunistischen Partei ausgeschlossen. Die zuständige Politabteilung klärte seine Kameraden über die "Gefährlichkeit der Aussagen Žilcovs" auf. Seine Zweifel an der "Überlegenheit des sowjetischen Systems" wertete man als Folge "seines mangelhaften politischen Wissens und seiner ideologischen Zurückgebliebenheit".

29. März 1945: Die ersten Soldaten der Roten Armee überquerten die österreichisch-ungarische Grenze bei Klostermarienberg im Burgenland. Durch das Kriegsende und die Besatzung in Österreich kamen mehrere Hunderttausend sowjetische Besatzungsangehörige in direkten Kontakt mit dem kapitalistischen Westen.

Für die meisten von ihnen stellte dies die erste und oft - für Jahrzehnte - auch letzte Möglichkeit dar, über den Tellerrand des kommunistischen Imperiums hinauszublicken. Zumindest für einen Teil der sowjetischen Soldaten bedeutete dieser unmittelbare Einblick in das Leben des ehemaligen Feindes einen tiefgehenden Kulturschock. Die vorherrschenden Lebensbedingungen unterschieden sich drastisch von jenen in der Sowjetunion, aber auch von dem Bild, das ihnen von Stalins Propagandamaschinerie jahrelang eingehämmert worden war. Diese Diskrepanz zwischen dem Lebensstandard in Europa und jenem in der Heimat empfanden die Sieger vielfach als persönliche Niederlage.

Angesichts der ersten Kontakte mit der Bevölkerung kamen nun die von der sowjetischen Kriegspropaganda geprägten Feindbilder zum Tragen. In Österreich wurde jedoch auf der Basis der Moskauer Deklaration eine klare Differenzierung zwischen "Deutschen" und "Österreichern" gefordert: mit diesen sollte abgerechnet, das "friedliche österreichische Volk" hingegen verschont werden.

Befreiungspathos

Die Oberbefehlshaber der 2. und 3. Ukrainischen Front, die Marschälle Rodion Malinovskij und Fedor Tolbuchin, gaben entsprechende Befehle an ihre Truppen und Aufrufe an die österreichische Bevölkerung mit den grundsätzlichen Zielen der sowjetischen Politik in Österreich heraus: Befreiung vom "faschistischen Joch", Wiederherstellung der Unabhängigkeit und eines normalen politischen Lebens sowie Kampf der Roten Armee "gegen die deutschen Besatzer und nicht gegen die Bevölkerung Österreichs". Nicht nur aufgrund derselben Sprache und Uniformen sahen sich viele Besatzungssoldaten von dieser Vorgabe - zumindest anfangs - überfordert.

Nach dem "Wettlauf der Armeen" war Österreich im Mai 1945 militärisch sechsfach besetzt. Den weitaus größten Gebietsanteil hatten die Sowjets inne, wobei Stalins Soldaten eindeutig am stärksten in Österreich vertreten waren: 400.000 Mann der 2. und 3. Ukrainischen Front machten die "totale Besetzung" (Manfried Rauchensteiner) augenfällig. Diese Truppenstärke sank bis Herbst 1945 um etwa die Hälfte auf 180.000 bis 200.000 Mann und bis Jahresbeginn 1946 auf rund 150.000 Personen.

Neben den Militärangehörigen waren Diplomaten, Geheimdienstler, Journalisten, Dolmetscher, Erdölspezialisten und - wenn der Rang stimmte - deren Familienmitglieder über die unterschiedlichen Einrichtungen des sowjetischen Besatzungsapparates in Österreich stationiert.

"Versuchungen"

Von Anfang an hatte die Armee mit Problemen in den eigenen Reihen zu kämpfen. Eindringlich mahnte man die Kommandanten, "den Versuchungen des Lebens zu widerstehen", sich "in gebührender Weise" zu benehmen sowie "allzeit daran zu denken, dass er ein Repräsentant der Roten Armee der Großen Sowjetunion ist".

Bereits im September 1945 reagierte der Oberbefehlshaber der Zentralen Gruppe der Streitkräfte Marschall Ivan Konev mit einer neuen Weisung an die Militärkommandanten. Zu diesem Zeitpunkt hatte sich herauskristallisiert, wo die wunden Punkte der Armee während ihres Österreicheinsatzes lagen: Einhaltung der Disziplin, Tragen der vorgeschriebenen militärischen Uniform, nötigenfalls mehrstündige Exerzierausbildung, Unterbindung von Marodieren und illegaler Beschlagnahme österreichischen Eigentums, Ahndung von Schwarzmarktgeschäften, Verbot des Besuchs von Volksfesten, Nachtlokalen, Cafés und - gültig für den Mannschafts- und Unteroffiziersstand - von Gaststätten mit Alkoholausschank.

Die Militärkommandanten waren verpflichtet, "verbrecherische Elemente" der Gegenspionage "Smer" (wörtlich: "Tod den Spionen") zu übergeben, die ihrerseits zur "Schattenebene" gehörte. Das am Schnittpunkt zwischen Ost und West gelegene, viergeteilte Österreich sollte ab April 1945 Operationsgebiet der sowjetischen Aufklärungsdienste und Spionageorganisationen werden. Hier prallten die Interessen der USA und der UdSSR aufeinander, hier kam es zu einer Projektion des Konfliktes zweier Weltanschauungen und zweier unterschiedlicher Systeme.

Sowjetische Besatzungsangehörige lassen sich nach Kriegsende im Zentrum Wiens fotografieren. Die Fotografin ist dabei selbst ein Teil der Inszenierung.
© © RGAKFD

Moskau spannte ab April 1945 ein geheimdienstliches Netz über österreichischen Boden. In vielen Bereichen entstand ein Parallelismus, die Tätigkeit der einzelnen Netze überlappte und duplizierte sich, und die ausgedehnte Doppelarbeit führte nicht selten zu Misstrauen unter den rivalisierenden Organen. Die in Österreich bis 1946 tätigen Grenztruppen des Volkskommissariats bzw. Ministeriums für Innere Angelegenheiten (NKVD/MVD) waren nicht nur für "Säuberungsaktionen" im sowjetisch besetzten Gebiet zuständig, sondern bespitzelten auch die eigenen Militärangehörigen. Bei groß angelegten Razzien nahmen sie "feindliche Elemente" unter der österreichischen Bevölkerung, aber auch unter den sowjetischen Soldaten fest.

Straftaten sowjetischer Armeeangehöriger standen aber auch in einem außenpolitischen Kontext. Der Kreml war sich bewusst, wie sehr insbesondere Plünderungen und Vergewaltigungen den "Kampf um Einfluss auf die Masse der Bevölkerung" in Österreich erschwerten. Nicht nur das Ansehen der Armee, sondern die Autorität der Sowjetunion per se stand auf dem Spiel. Politische Schulung, interne Kontrolle und eine möglichst effektive Bestrafung "moralisch zersetzter" Militärangehöriger sollten das in Österreich verbreitete negative "Russenbild" korrigieren. Nach den Erfahrungen des Krieges und dem relativen Freiraum, den die Besatzungssoldaten hier genossen, war dies kein leichtes Unterfangen.

Schwerwiegend waren zudem Fälle von Desertion und die damit einhergehenden Folgeverbrechen. "Spionage, Preisgabe einer geheimen militärischen oder staatlichen Information, Überlaufen auf die Seite des Feindes, Flucht oder Absetzen ins Ausland" fielen laut sowjetischer Definition unter den Begriff des "Vaterlandsverrats".

Bei mindestens zwei desertierten Besatzungssoldaten verhängte das Militärtribunal der Zentralen Gruppe der Streitkräfte in Baden wegen dieses Deliktes die Todesstrafe. Wie bei allen "unerfreulichen" Vorfällen in der Armee zog man auch hier die Vorgesetzten zur Verantwortung und gab fehlender politisch-ideologischer Schulung die Schuld. Die Rote Armee war eine politische Armee.

Trotz der großen Präsenz der Besatzungssoldaten und der zahlreichen überlieferten österreichischen Berichte über Vorfälle mit "Männern in Uniform" war bisher kaum etwas über den "sowjetischen" Alltag in Österreich bekannt. Wie Moskauer Dokumente nun zeigen, nahmen Ausbildung, Sport und Gefechtsübungen einen Großteil des Alltags sowjetischer Soldaten ein. Vor allem die einfachen Soldaten waren einem strikten Aufgabenreglement unterzogen. Die Pflege von Ausrüstung und Kleidung gehörte ebenso zu diesen wiederkehrenden Pflichten wie die Absolvierung von Politschulungen oder das Sauberhalten von Unterkünften.

Suche nach Unterkunft

Gerade in der frühen Besatzungszeit war es schwierig, Unterkünfte für die großen Kontingente der Roten Armee zu finden. Aufgelassene Kriegsgefangenenlager und ehemalige Kasernen der Deutschen Wehrmacht wurden ebenso genutzt wie beschlagnahmte Häuser, Klöster, Schlösser oder Schulen. Die Einquartierungen in Privatwohnungen kam höheren Dienstgraden zugute.

Der Dienst in der Armee bedeutete auch in den Besatzungstruppen vielfach eine Zeit ohne Frau und Familie. Dies erklärt zudem, weshalb bereits unmittelbar nach Kriegsende sowjetische Besatzungsangehörige - verbotenerweise - den Kontakt zu österreichischen Frauen, aber auch zu befreiten "Ostarbeiterinnen" suchten; ganz zu schweigen von den Vergewaltigungen. Manche Offiziere hielten sogar ehemalige Zwangsarbeiterinnen gewaltsam "für ihre Zwecke" von ihrer Repatriierung zurück.

Lediglich Generäle und Offiziere hatten zunächst bis 1948 das Privileg, ihre Familien in die sowjetische Besatzungszone Österreichs nachkommen zu lassen. Die Kommandeure der betroffenen Einheiten mussten gewährleisten, dass geeignete Wohnungen und ausreichend Lebensmittel bereitstanden. Erst im August 1953 erhielten schließlich die Frauen und Kinder von Offizieren, Generälen und Admirälen generell das Recht, ihrem Mann bzw. Vater ins Ausland zu folgen.

Die Führung hatte offensichtlich erkannt, dass "in Einsamkeit lebende Offiziere sehr demoralisiert sind und die Anzahl außergewöhnlicher Vorkommnisse wächst". Zum Zeitpunkt des Abzugs der Truppen 1955 befanden sich insgesamt 7590 Offiziersfamilien in der sowjetischen Besatzungszone. Die Gesamtzahl der Armeeangehörigen belief sich auf knapp 40.000 Personen.

Zwar befanden sich die nachgezogenen Offiziersfrauen auf österreichischem Boden, doch führten sie ein weitestgehend exterritoriales Leben und blieben größtenteils unter sich. Mangelnde Deutschkenntnisse stellten dabei sicherlich eine Barriere dar. Darüber hinaus ergaben sich durch die Beschäftigung mit Haushalt und Kindern weit weniger Anknüpfungspunkte zu Einheimischen als über den Dienst als Militärangehöriger.

Auch die Offizierskinder hatten häufig kaum Kontakt zu österreichischen Kindern. Sie besuchten sowjetische Schulen und wurden aus Angst vor tätlichen Übergriffen vielfach von der österreichischen Umwelt abgeschottet. Ein besonders plakatives Beispiel für diese Einstellung ist der Fall von Herbert Killian, der wegen "drei Ohrfeigen", die er 1947 einem neunjährigen Offizierssohn gegeben hatte, von einem sowjetischen Militärtribunal wegen "Rowdytums" zu drei Jahren GULAG-Lagerhaft verurteilt wurde.

Die Besatzungsangehörigen selbst genossen üblicherweise genügend Freiheiten, um zumindest peripher am österreichischen Leben teilnehmen zu können. Erkundungen von Wien, dem Wienerwald, der näheren Umgebung, aber teilweise auch der westlichen Besatzungszonen gehörten ebenso dazu wie ein reges Kulturprogramm und sportliche Aktivitäten. In Bereichen wie der Jagd und Fischerei prallten die Interessen der sowjetischen und österreichischen Seite wiederholt aufeinander. Fischen mit Dynamit oder Jagen außerhalb der einheimischen Regeln führte zu einem Kampf um die Ressourcen, aber auch zu Unmut darüber, dass sich die Besatzer etwas nahmen, was ihnen aus österreichischer Sicht nicht zustand.

Ein straff durchorganisierter Dienstplan, die umfangreiche politische Erziehung und eine vernünftige, kultivierte Freizeitgestaltung sollten die Disziplin der Besatzungssoldaten steigern und das "moralisch psychologische Trauma", das der Kontrast zwischen dem Lebensniveau in Europa und jenem in der sowjetischen Heimat auslösen konnte, vermindern. Daher wurde zudem besonderer Wert auf die Zelebrierung sowjetischer Riten, Feiertage und Jubiläen während des Auslandseinsatzes gelegt.

Gemeinsamer Walzer

Öffentlich zelebriert wurden unter anderem die zahllosen Kranzniederlegungen und Ehrenformationen an den Gräbern österreichischer Komponisten, allen voran von Johann Strauß, die nicht nur die Hochachtung für die österreichische Musik und Kultur unterstreichen, sondern auch Vorurteile gegenüber der "sowjetischen Barbarei" entkräften sollten. Der Walzerkönig - und mit ihm ein musikalisches Genre - entwickelte sich zum akustisch-visuellen Symbol für das aus sowjetischer Sicht erfolgreiche Auf-einandertreffen zweier militärischer und ideologischer Gegner zu Kriegsende.

Auslöser dafür war der Hollywoodfilm "The Great Waltz", der ab Mitte 1940 als Beutefilm in den sowjetischen Kinos lief und enorme Popularität erreichte. Er prägte insbesondere die Genera-tion des "Großen Vaterländischen Krieges" und somit jene Rotarmisten, die nur kurze Zeit später nach Österreich kamen. Kranzniederlegungen am Grabmal von Johann Strauß stellten daher einen der wichtigsten Bestandteile der sowjetischen Ikonografie von der Befreiung Österreichs dar.

Barbara Stelzl-Marx, geboren 1971 in Graz, Zeithistorikerin, ist stellvertretende Institutsleiterin am Ludwig Boltzmann-Institut für Kriegsfolgen-Forschung, Graz -Wien-Klagenfurt.

Literaturhinweis:

Die Historikerin Barbara Stelzl-Marx hat soeben ihre Habilitationsschrift "Stalins Soldaten in Österreich" veröffentlicht. Auf Basis von Archivdokumenten, Armeezeitungen, Interviews, Fotografien, Dokumentarfilmen und Memoiren lässt die Autorin die individuellen Erlebnisse von Armeeangehörigen lebendig werden.
Die Studie erhielt im März 2012 den Josef-Krainer-Würdigungspreis für Zeitgeschichte. Die Forschungen wurden im Rahmen eines APART-Stipendiums der ÖAW durchgeführt und zudem vom BMWF gefördert.

Barbara Stelzl-Marx: Stalins Soldaten in Österreich. Die Innensicht der sowjetischen Besatzung 1945– 1955. Oldenbourg/Böhlau, Wien–München 2012, 867 Seiten, 49,80 Euro.