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Verschiedene Menschenlinien haben gleichzeitig existiert. | Funde belegen: Homo habilis ist kein direkter Ahne des Homo sapiens. | Berlin. Will ein Forscher den Stammbaum des modernen Menschen unter die Lupe nehmen, arbeitet er in einer Disziplin, die so spannend wie frustrierend ist. Denn es gibt derzeit keinen Stammbaum des Menschen, sondern nur Vermutungen.
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Das noch vor wenigen Jahren gültige Bild von der Geschichte der Menschheit als Stamm mit wenigen großen Ästen, die sich in viele kleine aufteilen, stimmt nicht mehr. Nach diesem Bild ragt einer der Äste, an dessen Ende der Fachausdruck "Homo sapiens" steht, am weitesten in den Himmel - der moderne Mensch als "Krone der Schöpfung". Funde von Überresten seiner Vorfahren und Verwandten und molekularbiologische Analysen zeichnen jedoch ein anderes Bild.
Friedemann Schrenk vom Forschungsinstitut Senckenberg in Frankfurt beschreibt die neue Vorstellung als "Stammbusch": Wie ein Busch meist keinen Hauptstamm hat, sondern viele kleinere Stämme, die nebeneinander wachsen, zeigt die Geschichte der Menschheit viele Linien, von denen einige gleichzeitig nebeneinander lebten.
Dem gängigen Bild des Stammbaums der Menschheit zufolge entwickelte sich vor rund 2,2 Millionen Jahren im Osten Afrikas die Frühmenschen-Art Homo habilis, aus der vor rund 1,75 Millionen Jahren der Homo ergaster entstand, aus dem sich dann vor vielleicht 1,5 Millionen Jahren Homo erectus entwickelte - der direkte Vorgänger des modernen Menschen Homo sapiens. Wie der moderne Mensch hantierte er mit Werkzeugen und verstand sich aufs Feuer machen.
Zu dieser geradlinigen Entwicklungsidee aber passen der Schädel eines Homo erectus und der Oberkiefer eines Homo habilis nicht, die beide 2007 von einer Forschergruppe um Fred Spoor vom University College in London und Meave Leakey vom Koobi Fora Research Project in Kenia in der Fachzeitschrift "Nature" beschrieben werden. Demnach stapfte das Homo habilis-Individuum noch vor 1,44 Millionen Jahre durch Ostafrika - obwohl seine Art bereits 300.000 Jahre zuvor von Homo ergaster abgelöst worden sein soll.
Da auch von dessen Nachfolger Homo erectus in derselben Gegend ein rund 1,55 Millionen Jahre alter Schädel gefunden wurde, müssen Homo erectus und Homo habilis eine Zeit lang gemeinsam in der gleichen Gegend gelebt haben. Das aber passt nicht zu der Idee, Homo erectus hätte sich über die Zwischenstufe Homo ergaster aus dem Homo habilis entwickelt. Vielmehr müssen sich beide vor zwei bis drei Millionen Jahren entwickelt und danach den gleichen Lebensraum geteilt haben, sagt Leakey. Mit dieser Conclusio wirft sie Homo habilis endgültig aus der Reihe der direkten Vorfahren des Homo sapiens.
Wissenschafter vermuten Ähnliches bereits seit einiger Zeit. Denn es gibt eine weitere Frühmenschen-Art, die eher als "Urahn" des modernen Menschen Homo sapiens in Frage kommt - den Homo rudolfensis. Diese Frühmenschenart hatte Leakeys Ehemann Richard 1972 ebenfalls am Turkana-See in Kenia entdeckt. Und da dieser See in der Kolonialzeit Rudolf-See hieß, wurde diese Frühmenschenart Homo rudolfensis genannt.
1991 fand Schrenk zusammen mit Senckenberg-Forscher Ottmar Kullmer in Malawi dann den Unterkiefer eines weiteren Homo rudolfensis, der eine halbe Million Jahre älter ist als der Fund von Richard Leakey. Damit ist Homo rudolfensis mit rund 2,5 Millionen Jahren die älteste Art der Gattung Homo, zu der auch der moderne Mensch gehört. Zudem ähnelt Homo rudolfensis dem modernen Menschen weitaus mehr als Homo habilis. Mit 750 Millilitern ist sein Gehirn relativ groß, und Werkzeuge verwendete er ebenfalls. Schrenk und Kullmer vermuten, dass Homo rudolfensis ein direkter Vorfahre von Homo ergaster war, der wiederum über Homo erectus direkt zum modernen Menschen führt.
Frühmensch aus Sibirien
Auch der moderne Mensch lief nicht immer als einzige Linie der Gattung Homo herum. Svante Pääbo und Johannes Krause vom Max-Planck-Institut für evolutionäre Anthropologie in Leipzig hatten zu Beginn des Jahres das vorderste Fingerglied eines Frühmenschen untersucht, der vor rund 40.000 Jahren gleichzeitig mit modernen Menschen und Neandertalern im Altai-Gebirge im südlichen Sibirien lebte. Das Erbgut erwies sich als derart anders als jenes von Homo sapiens und Homo neanderthalensis, dass er zu einer bisher unbekannten Menschenlinie gehören muss.
Da vor 100.000 bis 12.000 Jahren auf der indonesischen Insel Flores mit den sogenannten Hobbit-Menschen Homo floresiensis noch eine weitere Menschenlinie existierte, gab es damals also mindestens vier Linien der Gattung Mensch in Eurasien, von denen heute nur noch der "moderne Mensch" Homo sapiens übrig ist. Und diese Menschenlinien wanderten wohl in verschiedenen Wellen immer wieder aus ihrer Heimat Afrika in Richtung Asien und Europa aus.
Denkvermögen entscheidend
Ob die Linien aber jeweils eigene Arten sind, bezweifeln die Spezialisten für altes Erbgut. Mit einer genauen Analyse des Erbguts zeigten Pääbo und Krause vergangenen Mai, dass Neandertaler und Homo sapiens wohl gemeinsam Kinder haben konnten. Allerdings geschah das wohl selten und zudem vor rund 100.000 Jahren. Noch heute stecken jedoch im Erbgut von Otto Normalbürger ein bis vier Prozent Neandertaler-Erbeigenschaften. Der moderne Mensch wird so zum lebenden Beweis dafür, dass er selbst keinen Stammbaum hat, sondern so etwas wie einen Stammbusch.
Vergleichen Krause und Pääbo das Erbgut der Neandertaler und moderner Menschen, fallen 20 Regionen auf, in denen sich beide Menschenlinien am stärksten unterscheiden. Gleich vier dieser Regionen aber haben mit den kognitiven Fähigkeiten zu tun. Es scheint also das Denkvermögen zu sein, dass den Menschen von seinen nächsten Verwandten am deutlichsten unterscheidet. "Auffällig ist die Häufung der Unterschiede in diesem Bereich auf jeden Fall", sagt Krause.