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Starkes Wachstum, marode Wirtschaft

Von Anja Stegmaier

Wirtschaft

Das enorme türkische Wachstum ist eigentlich gar keines. Experten zweifeln am Boom - eine vorgezogene Wahl ließe sich so leichter gewinnen.


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Istanbul/Ankara. Die Wirtschaft der Türkei boomt. Sie wuchs 2017 stärker als in China, so stark wie seit vier Jahren nicht. Das legen jedenfalls die Zahlen des türkischen Statistikamts nahe. Um 7,4 Prozent soll die türkische Volkswirtschaft im vergangenen Jahr zugelegt haben. 2016, im Jahr des Putschversuches, war das nachträglich angepasste Bruttoinlandsprodukt (BIP) bei 3,2 Prozent gelegen.

Begründet wird dieses türkische Wunder damit, dass trotz großer politischer Spannungen mit Deutschland und anderen wichtigen Handelspartnern Investitionen nicht ausbleiben. Gute Geschäfte in der Industrie, am Bau und bei den Dienstleistern sollen laut Statistikamt ebenfalls massiv beigetragen haben.

Die türkische Regierung stellte sogleich in Aussicht, dass das Wachstum 2018 höher als die prognostizierten 5,5 Prozent ausfallen könnte. "Die Türkei ist auf einem umfassenden und nachhaltigen Wachstumskurs", sagte Wirtschaftsminister Nihat Zeybekci. Das Land habe das Potenzial und die Entschlossenheit, die mittelfristigen Ziele zu erreichen und sogar zu übertreffen.

Die Wirtschaft boomt aber nur vorgeblich - Experten trauen den präsentierten Daten des türkischen Statistikamtes schon länger nicht mehr, das seit 2011 dem Ministerium für Entwicklung unterstellt ist. Europas oberste Statistikbehörde Eurostat mahnte schon 2015 größere politische Unabhängigkeit an. Tatsächlich beweisen lässt sich eine politische Beeinflussung der Zahlen allerdings nicht - aber die Zahlen sprechen für sich. Denn selbst die Behörden des türkischen Staatspräsidenten Recep Tayyip Erdogan leugnen die hohen Inflations- und Arbeitslosenraten von mehr als zehn Prozent im Land nicht. Auch der anhaltende Wertverfall der türkischen Lira trübt die neueste Jubelnachricht. In dieser Woche konnten für einen Euro keine fünf Lira gekauft werden.

Durch die Teuerung müssen Türken stetig erheblich mehr für Lebensmittel, Kleidung und Wohnen bezahlen, auch das Handelsdefizit steigt wieder deutlich an. Die vielen Importe werden immer teurer, der Lohn steigt - wenn überhaupt - nur inflationsausgleichend an. Warum ein Land mit boomender Wirtschaft mit einer Arbeitslosenquote von mehr als elf Prozent zu kämpfen hat, macht ebenfalls mehr als stutzig.

Die negative Handelsbilanz lässt auch die Schulden des Landes ansteigen. So beträgt das Defizit aktuell 5,5 Prozent des BIPs. Zu den Ungereimtheiten des Booms gehört auch die steigende Auslandsverschuldung der Türkei. Sie beträgt rund 60 Prozent der Wirtschaftskraft, etwa die Hälfte davon entfällt auf Privatwirtschaft und private Haushalte. Die Niedrigzinspolitik und der Lira-Kursverfall lassen die Schulden zudem eher zu- als abnehmen.

Ausländische Investorenziehen sich zurück

"Ich bin skeptisch, was die Richtigkeit der Zahlen angeht", sagt Christian Rumpf der "Wiener Zeitung". Der Anwalt, spezialisiert auf Recht und Wirtschaft in der Türkei, kann aktuell mit keinen guten Wirtschaftsnachrichten aus der Türkei aufwarten. Türkische Firmen gerieten vielmehr in Schwierigkeiten, weil vor allem deutsche Firmen ihre Investitionen zurückgefahren hätten.

Rumpf weiß von einzelnen Beratungsfirmen in der Türkei, die auf ausländische Kunden spezialisiert sind, vor allem auch aus Deutschland, die heftig zu kämpfen hätten. Geschäftsführerabsetzungen, Liquidationsverfahren - die Kanzlei des Juristen kann sich nicht über mangelnde Arbeit beschweren, interessanterweise habe diese aber mit der Krise zu tun, also mit Firmen, die sich wieder aus der Türkei zurückziehen. Auch Gründungsanfragen gebe es aktuell kaum für das Land. Obwohl der Rechtsanwalt überzeugt davon ist, dass das Investitionsklima in der Türkei aktuell gut sei: "Ich würde im Augenblick jedem Unternehmen raten, in der Türkei zu investieren, weil die Infrastruktur gut ist und die Lira billige Exporte ermöglicht."

Vorgezogene Neuwahlen wahrscheinlich

Präsident Erdogan und sein Wirtschaftsminister Zeybekci lassen sich von den Zahlen nicht beirren und legen ihre eigenen vor. "Keine Wirtschaft innerhalb der G20 wächst schneller als unsere", twitterte Zeybekci schon Ende vergangenen Jahres stolz, als das BIP im dritten Quartal auf mehr als elf Prozent anstieg. Das Land übertreffe alle Vorhersagen. Selbst Erdogan hatte seinen Landsleuten "nur" sieben Prozent Wachstum für 2017 versprochen. Angesichts solcher Zahlen solle die Opposition nun schweigen, mahnte er.

Vorgezogene Neuwahlen sind laut dem Türkeikenner Rumpf momentan zwar "nicht ganz oben auf der Tagesordnung". Von Vorbereitungen sei aber viel zu hören: Wahlzettel seien bereits gedruckt worden, über deren Formalität diskutiert werde. Viel zu viele sollen gedruckt worden sein, etwa 500 Millionen, genug für drei Wahlen.

Die Opposition bereitet sich jedenfalls bereits merklich darauf vor, vor allem die Iyi Parti, die "gute Partei", die Ende Oktober 2017 von Meral Aksener gegründet wurde und mit ihrer nationalistischen Agenda zu Erdogans stärkster Konkurrentin aufgestiegen ist. Ein Grund mehr für Erdogan, mit den Wahlen nicht bis 2019 zu warten.