Rund 15 Monate nach dem Zusammenbruch der US-Investmentbank Lehman Brothers und dem Ausbruch der größten Finanz- und Wirtschaftskrise seit der Weltwirtschafskrise der frühen 1930er Jahre scheinen sich die Wogen zu glätten. Die Wirtschaftsindikatoren zeigen wieder nach oben, die Börsen boomen, die (verbliebenen) großen Investmentbanken weisen Rekordgewinne aus und die meisten "systemrelevanten" Banken zumindest respektable Betriebsergebnisse.
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Business as usual scheint die Devise. Man hört nur noch wenig über die als unabdingbar bezeichnete Verschärfung der Finanzmarktregulierung (abgesehen von einer Reform der Eigenkapitalvorschriften) oder die Änderung der Entlohnungssysteme in Finanzinstitutionen. Besonders überrascht die Leichtigkeit, mit der man über die Herkulesaufgabe der Sanierung der öffentlichen Budgets hinweggeht. So konnte die "Wiener Zeitung" vor kurzem unter Berufung auf den Vorsitzenden des Staatsschuldenausschusses titeln: "Experten prognostizieren Budget-Spaziergang". Tatsächlich meint IHS-Chef Bernhard Felderer, der Großteil der Sanierungslast werde durch das wieder erstarkte Wirtschaftswachstum erfolgen.
Hoffentlich gibt es kein böses Erwachen. Noch kann für die Banken keine definitive Entwarnung gegeben werden. Die Europäische Zentralbank wird die von ihr nahezu zum Nulltarif ermöglichte Liquiditätsschwemme abbauen und am Ende des Tages um Zinserhöhungen nicht herumkommen. Mit einer raschen Ausweitung der Kreditvergabe durch Banken ist angesichts strengerer Eigenkapitalvorschriften und Risikoscheu wohl nicht zu rechnen, zumindest nicht zu günstigen Konditionen. Der bisher weitgehend stabil gebliebene US-Dollar könnte deutlich nachgeben, wenn der Kapitalzufluss aus dem Ausland abnimmt. Dies würde den europäischen Exporteuren das Leben schwer machen.
Die Arbeitsmarktschwäche ist trotz Fachkräftemangels noch lange nicht überwunden und wird den privaten Konsum weiterhin dämpfen. Vor allem aber: Woher soll in den nächsten Jahren ein kräftiger Aufschwung kommen, wenn praktisch alle europäischen Länder einen restriktiven Budgetkurs fahren?
Und last but not least, wie können die für das Wirtschaftswachstum so wichtigen zusätzlichen Zukunftsinvestitionen in Bildung, Qualifikation, Forschung und Infrastruktur finanziert werden?
Antworten auf diese Fragen fehlen. Bezeichnenderweise hat die österreichische Bundesregierung die Erstellung des nächsten Doppelbudgets um ein Jahr verschoben. Harte Wahrheiten will man den Bürgern vor Regionalwahlgängen wohl nicht zumuten. Statt die Krise als Anlass für nationale Strukturreformen zu nutzen, "vergeuden" wir sie, wie es vor kurzem der Stabschef des Weißen Hauses, Rahm Emanuel, treffend formulierte.
Erhard Fürst war Leiter der Abteilung Industriepolitik/Wirtschaft in der Industriellenvereinigung.