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Stefan Slupetzky

Von Brigitte Pechar und Gerald Schmickl

Reflexionen
Liebt die Wiener Atmosphäre: Stefan Slupetzky. Foto: Marko Lipus

Der Wiener Autor Stefan Slupetzky erzählt, wie er zum Krimischreiben kam, warum er dabei keinem Plan folgt - und was er von der Verfilmung seines ersten "Lemming"-Romans hält.


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Wiener Zeitung: Herr Slupetzky, Sie sind ein preisgekrönter Kinderbuchautor. Wie kommt man vom Kinderbuch zum Kriminalroman? Stefan Slupetzky: Ich habe meine Kinderbücher beim deutschen Middelhauve Verlag veröffentlicht. Die damalige Verlagschefin hat angeregt, ich möge einen Krimi für Kinder schreiben. Das habe ich dann auch getan, aber schon nach dem ersten Kapitel war mir klar, dass das nichts für Kinder ist - viel zu brutal, zu grausig, zu abgründig. Und dieses erste Kapitel wurde dann jenes in "Der Fall des Lemming", meinem ersten Kriminalroman.

Der aber dann in einem anderen Verlag erschien . . .

Ja, aber ursprünglich wollte der Middelhauve Verlag das Buch trotzdem herausbringen, halt auf dem Erwachsenenmarkt. Doch ich habe zwei Jahre lang nichts mehr von denen gehört. Dann habe ich erfahren, dass der Verlag an Beltz verkauft wurde - und so gut wie alle Titel eingestellt wurden. Das bedeutete nicht nur, dass 14 Bücher von mir über Nacht vom Markt verschwunden waren, sondern auch mein Krimi-Manuskript verloren schien.

Damals war das Lemming-Buch schon fertig?

Ja, es war sogar schon lektoriert. Dann habe ich meine Wunden geleckt, mein Manuskript zwölf Mal kopiert und an meine Wunschverlage geschickt - an die größten und feinsten im deutschen Sprachraum. Rowohlt hat zugegriffen. Wie so oft, sind die größten Katastrophen letztlich die größten Glücksfälle.

Sie kommen ja von der bildenden Kunst her und haben mit dem Zeichnen und Malen von Kinderbüchern begonnen. Wie hat sich der Wechsel vom Zeichnen zum Erzählen ergeben?

Das erfolgte fließend. Da ich keinen Kinderbuchautor kannte, musste ich die Texte zu meinen Bildern selbst schreiben.

Ihr Weg führte also vom Malen und Illustrieren zum Texten von Kinderbüchern und zum Krimiautor. Wo könnte es denn noch hin gehen?

Ich mache ja noch mehr. Ich dramatisiere etwa Texte für die Theaterfestspiele in Reichenau, außerdem habe ich einen Erzählband und ein Reisebuch geschrieben. Das nächste Projekt ist ein Roman ohne Genrebezeichnung, also kein Krimi. Und außerdem würde es mich reizen, einmal ein Drehbuch zu schreiben.

Das Drehbuch zum derzeit bei uns laufenden Film, "Der Fall des Lemming", haben Sie nicht selbst geschrieben?

Nein, das Drehbuch stammt von Agnes Pluch, ich habe nur marginal daran mitgewirkt, habe Dialoge bearbeitet und teilweise neu geschrieben.

Sind Sie mit der filmischen Umsetzung zufrieden?

Ja, ich bin mit dem Film zufrieden. Er ist gelungen, hat viele Stärken, die teilweise aber ein wenig verborgen sind. Ich finde die Wiener Atmosphäre, die der Film atmet, sehr schön: Diese Mischung aus Boshaftigkeit, Zärtlichkeit, Schlampigkeit und Düsterkeit gefällt mir gut. Aber ich bin jemand, der sehr ungern die Kontrolle aus der Hand gibt. Es ist schwer, wenn man nur ein kleines Rädchen im Getriebe ist. Ich denke, dass jedes dieser kleinen Rädchen im Stillen zu sich sagt, dieses oder jenes hätte ich anders gemacht - und natürlich geht es auch mir so.

Und wie beurteilen Sie die Besetzung? Fritz Karl spielt den Detektiv Leopold Wallisch alias Lemming, Roland Düringer seinen bösartigen Polizei-Ex-Kollegen Krotznig.

Mit der Besetzung bin ich bis in die kleinste Nebenrolle sehr zufrieden. Den Lemming habe ich mir bildlich gar nie vorgestellt, weil ich ja aus seinem Blickwinkel heraus das Buch geschrieben habe. Fritz Karl verkörpert ihn sehr gut. Ich bin ihm am Filmset begegnet - und wir hatten beide den gleichen Mantel an, worüber wir sehr gelacht haben. Düringer entspricht zwar meiner literarischen Vorlage in keiner Weise, aber ich finde es sehr spannend, wie er die Figur anlegt.

Alle Ihre Texte und Figuren sind typisch wienerisch. Können Sie sich eigentlich vorstellen, außerhalb von Wien zu leben und zu schreiben?

Ich würde nicht gerne woanders leben, weil Wien eine wunderbare Stadt ist. Nicht zuletzt wegen der Atmosphäre. Ich leide immer furchtbar, wenn ein altes, schlampiges Eckerl irgendwo der sogenannten Stadterneuerung zum Opfer fällt. Dadurch wird alles nivelliert. Mit dem literarischen Aspekt ist es etwas anderes. Die Lemming-Krimis spielen nun einmal in dieser Stadt, daher ist es logisch, dass die Dialoge wienerisch sind. Ich habe schon den Ehrgeiz, dass meine epischen Passagen, wenn ich das so sagen darf, nicht auf diese Stadt alleine beschränkt sind - aber der Humor, der dahinter steckt, ist sicher stark von Wien geprägt.

Die Lemming-Krimis spielen ja großteils in einem bestimmten Stadtteil, nämlich in der Rossau, wo Sie ja selbst auch wohnen. Ist es leicht, aus seinem eigenen Grätzl heraus zu schreiben, oder fehlt einem da die Distanz?

Es ist das buchstäblich Naheliegende. Ich schreibe ja nicht wirklich gerne - und deshalb bringe ich das Schreiben gerne rasch hinter mich. Übermäßige Recherchearbeit belastet mich. Ich wüsste daher nicht, warum ich einen Roman etwa in Argentinien spielen lassen sollte, wofür ich mindestens ein Jahr recherchieren müsste.

Wien-Krimis haben seit Jahren Konjunktur, wie etwa jene von Wolf Haas oder Heinrich Steinfest. Ist es Zufall, dass Sie fast zur gleichen Zeit in diesem Genre gelandet sind? Ich denke, dass diesem Zufall eine tiefere Systematik zugrunde liegt. Ich habe mir sicher nicht vorgenommen, zu zeigen, dass ich das auch kann. Ich schätze Wolf Haas über alle Maßen, aber ich betone immer gerne, dass ich den ersten "Lemming" geschrieben habe, bevor ich das erste Buch von Haas gelesen habe. Es gibt Zeiten, die sind einfach reif für gewisse Bücher.

Aber warum gerade so viele Krimis? Oft geht es darin ja gar nicht so sehr um den Plot, sondern eher um eine bestimmte Atmosphäre, um eine literarische Topographie . . .

Ich würde so sagen: Die Deutschen und die Schweizer haben auch Seelenärzte, aber die Österreicher hatten Sigmund Freud. Ich glaube, dass in dieser Stadt das Böse und das Abgründige einfach direkter als anderswo abzulesen sind - und somit auch besser zu beschreiben.

Ist die programmatische Nähe zu Wolf Haas, in die Sie häufig gestellt werden, manchmal nicht auch bedrückend?

Nein, jeder Vergleich mit ihm ehrt mich. Ich finde es wunderbar, wenn ich mit Haas in einem Atemzug genannt werde, solange es keine despektierlichen Bemerkungen sind. Also wenn etwa behauptet wird, ich hätte von ihm abgeschrieben.

Die Ermittler - der Brenner bei Haas, der Lemming bei Ihnen - sind ähnliche Figuren. Beide sind Detektive, keine Polizisten. Warum ist der Lemming ein Ex-Polizist?

Dass der Lemming so rasch zum Detektiv wird, hat einen sehr profanen Grund: den Rechercheaufwand. Ich habe einige Monate lang versucht, die hierarchischen Strukturen bei der Polizei zu erforschen. Das ist mir nicht gelungen. Die Erklärungen der Polizisten waren für mich zu verwirrend, sodass ich beschlossen habe, meinen Wallisch einen Detektiv sein zu lassen. Das sind Menschen wie du und ich, da muss man nicht lange recherchieren; außerdem erspare ich ihm die tägliche Schreibarbeit.

Apropos Schreibarbeit: Kennen Sie die Verläufe Ihrer Geschichten im Vorhinein, oder lassen Sie sich dann beim Schreiben intuitiv leiten?

Ich kenne den Verlauf der Geschichten überhaupt nicht. Ich habe einmal probiert, ein Buch im Voraus zu planen und bin daran kläglich gescheitert, weil es so langweilig war. Das Schreiben hat mich überhaupt nicht mehr gereizt. Ich vergleiche das mit dem Bergsteigen: Ich sitze in der Talstation und sehe den Gipfel, vielleicht auch noch einen Vorsprung in der Wand, wo ich meine Mittelstation errichten werde, aber den Weg dorthin kenne ich nicht.

Ihnen ist die Lösung eines Krimis also am Beginn noch gar nicht bekannt?

Davon habe ich meist nur eine vage Vorstellung. Beim dritten Lemming-Band wusste ich bis zum letzten Kapitel nicht, wer der Mörder ist.

Hat man da nicht Angst, dass einem vielleicht gar nichts einfällt?

Ich denke, es ist die interessantere, die spannendere Art zu schreiben, aber auch die anstrengendere. Es gibt diesen Improvisationstheater-Guru, Keith Johnstone, der einmal gesagt hat: "Geschichten erzählen heißt rückwärts gehen." Das bedeutet, man weiß nie, in welche Richtung man geht, aber man kennt jeden Schritt, den man schon gemacht hat. Mir geht es genau so. Ich muss jeden Satz, jede Wendung im Kopf haben, um weiterschreiben zu können.

Gibt es für den Lemming eine Art Masterplan, wohin sich diese Figur entwickeln soll?

Nein, aber das hängt mit meiner eigenen Entwicklung zusammen. Die Wechselwirkung zwischen Fiktion und Realität funktioniert ja keineswegs nur in eine Richtung. Ein Beispiel, das ich gerne erzähle, ist, dass Klara ( die Lebensgefährtin des Lemming, Anm. ) gegen Ende des dritten Bands einen unerklärlichen Heißhunger auf Salzgurken hat - weil sie schwanger ist. Ich habe das im April 2006 geschrieben, und im September 2006 hat meine Frau begonnen, mit großem Appetit Salzgurken zu essen - auch sie war schwanger. Das heißt, dass die Fiktion auf die Realität einwirken kann, wie auch umgekehrt. Dass der Lemming im vierten Band Vater wird, hängt natürlich eng damit zusammen, dass ich davor selbst Vater geworden bin.

Was Sie sagen, bedeutet ja, dass etwas, das dem Lemming passiert, auch Ihnen zustoßen könnte. Hat das nicht Auswirkungen auf das Schreiben?

Es ist nicht das Geschriebene, das wirkt, sondern das Visualisierte. Intensive Visualisierungen haben die Tendenz, sich zu realisieren - davon bin ich überzeugt, auch wenn die Wissenschaft das noch nicht beweisen kann. Das hat etwa dazu geführt, dass ich in "Lemmings Zorn" mit der Beschreibung einer Szene, in der ein einjähriges Kind entsetzlich zu Tode kommt, bewusst gewartet habe, bis mein Sohn älter war als ein Jahr.

Und es ist gut gegangen?

Ja, mein Sohn ist mittlerweile schon zweieinhalb Jahre.

Sie haben den Lemming auch als Fortsetzungsroman in einer Gratiszeitung veröffentlicht. Haben Sie sich dadurch größere Popularität erhofft?

So etwas bringt natürlich eine gewisse Popularität, aber ausschlaggebend war für mich, dass in diesem Buch die Persiflage eines Politikers auftaucht, eines faschistoiden Volksverhetzers. Und eine Passage, in der dieser Politiker aufs Korn genommen wird. Ich wollte, dass dieser Text möglichst viele Menschen erreicht. Kurz nach Veröffentlichung dieser Stelle wurde die Fortsetzungsserie abgebrochen. Ich weiß bis heute nicht, warum.

Zur Person

Stefan Slupetzky,, 1962 in Wien geboren, studierte an der Wiener Kunstakademie, arbeitete als Kunstlehrer, schrieb und illustrierte mit großem Erfolg Kinder- und Jugendbücher, bevor er sich den Kriminalromanen zuwandte. Aus seiner "Lemming"-Serie sind mittlerweile vier Bücher erschienen, zuletzt "Lemmings Zorn" (rororo 2009). Die Verfilmung des ersten Romans, "Der Fall des Lemming", läuft derzeit in den heimischen Kinos. Slupetzky hat zahlreiche Preise erhalten, zuletzt den "Krimipreis von Radio Bremen" (2009).