Umfragen sagen einen Sieg der republikanischen Sinn Féin bei den Wahlen am Samstag voraus. Es wäre ein politisches Erdbeben - und eine Abstrafung der Sparpolitik durch die seit neun Jahren regierende Partei von Premier Leo Varadkar.
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Er war mit Kanadas Premier Justin Trudeau joggen, nahm seinen Ehemann zum Treffen mit US-Vizepräsident Mike Pence mit und verschaffte seinem Land im Streit um den Brexit international Gehör. Doch bei den Wahlen am kommenden Samstag droht dem irischen Premier Leo Varadkar eine Niederlage: Laut einer Umfrage für die "Irish Times" liegt die republikanische Sinn Féin mit 25 Prozent vorne, Varadkars liberal-konservative Fine Gael ist auf 20 Prozent abgerutscht. Die konkurrierende Fianna Fáil liegt bei 23 Prozent.
Dabei ist es für Varadkar in den vergangenen Jahren gar nicht schlecht gelaufen. Als er den ungeliebten Parteichef Enda Kenny 2017 ablöste, war der Jubel groß: Noch keine vierzig Jahre alt, war Varadkar ein frisches Gesicht. Der Sohn eines Inders ist nicht nur der erste nicht-weiße Premier Irlands, sondern auch der erste offen homosexuelle Regierungschef.
Urban, schwul und neoliberal
Urban, schwul und gebildet: Varadkar ist so gar nicht typisch irisch - und passte damit umso besser in die Zeit. Zwei Jahre vor seinem Amtsantritt führte Irland die Ehe für alle ein, Varadkar hatte sich an vorderster Front dafür eingesetzt. Später, als Premier, machte er sich für das Recht auf Schwangerschaftsabbrüche stark und brachte das entsprechende Gesetz auf den Weg. Varadkar stand für ein neues, modernes Irland, er hatte die richtige Biografie und den passenden Dubliner Mittelschichtsdialekt. Doch auf dem Land konnten damit viele nichts anfangen. Mit seiner Ansage, weniger Fleisch essen zu wollen, erzürnte er die Bauern, die mit fallenden Fleischpreisen kämpfen. "Where’s the beef, ye vegan" (Wo ist das Rindfleisch, du Veganer), skandierten protestierende Farmer im Mai 2019 bei einem Besuch Varadkars in Cork.
Andere werfen ihm und seiner Fine Gael vor, das Land mit ihrer Sparpolitik völlig aufgerieben zu haben - eine Behauptung, die sich kaum widerlegen lässt. Als sich Irlands Wirtschaft 2011 langsam von der Immobilienkrise erholte, galt das Land als Musterschüler unter den Krisenstaaten. Die Auflagen der Troika erfüllte Dublin ohne Murren, doch die Austeritätspolitik stürzte viele in die Armut, der Zorn auf die etablierten Parteien wuchs.
Mittlerweile hat die Kinderarmut ein Rekordniveau erreicht, an den Essensausgabestellen bilden sich lange Schlagen und selbst die Mittelschicht leidet. Seit Jahren herrscht akute Wohnungsnot, mehr als 10.000 Menschen sind obdachlos, viele können sich die horrenden Mieten nicht mehr leisten. Seit 2013 sind die Hauspreise um 83 Prozent gestiegen, in Dublin haben sie sich nahezu verdoppelt. Rund 30.000 neue Wohnungen wären jedes Jahr nötig. Auch das staatliche Gesundheitswesen steckt in der Krise, es herrscht ein eklatanter Mangel an Krankenhausbetten und Personal.
Der Brexit spielt keine Rolle im Wahlkampf
Im Streit um den Brexit hat Varadkar zwar jede Möglichkeit genutzt, seine diplomatischen Fähigkeiten unter Beweis zu stellen. Irland wollte Grenzkontrollen zur britischen Provinz im Norden jedenfalls verhindern - das ist gelungen. Der Premier hat seine Karten gut ausgespielt, im Streit mit London standen die restlichen 26 Mitgliedstaaten geeint hinter Dublin. Plötzlich war es Irland, das bei den Brexit-Verhandlungen den Ton angab. Die Beziehungen zum übermächtigen Nachbarn, dem sich Irland immer unterordnen musste, standen kopf.
Doch nun ist der Brexit vollzogen, im Wahlkampf spielte er keine Rolle. Entscheidend waren innen- und sozialpolitische Themen. Der Verhandlungserfolg Varadkars in Sachen Brexit wurde von den Lebensrealitäten der Menschen eingeholt. Viele fühlen sich von den etablierten Parteien im Stich gelassen.
Das gilt nicht nur für Varadkas Fine Gael, sondern auch für die konkurrierende Fianna Fáil. Ihre Wurzeln haben beide Parteien im irischen Unabhängigkeitskampf, im Bürgerkrieg von 1922/23 kämpften sie auf unterschiedlichen Seiten. Die inhaltlichen Unterschiede sucht man heute mit der Lupe. Die Fine Gael mag etwas weiter rechts stehen, die Fianna Fáil populistischer agieren, aber beide sind traditionelle Mittelklasseparteien, die gern für Stabilität stehen.
Nächstes Ziel: Wiedervereinigung
Nun aber wenden sich die Iren vermehrt an die linke Alternative. Unter der neuen Parteichefin Mary Lou McDonald hat Sinn Féin vor allem bei jungen Menschen und in den Städten an Sympathien dazugewonnen. Die Republikaner wollen eine Reichensteuer einführen und 100.000 neue Wohnungen bauen. Damit nimmt die Linkspartei den Platz ein, der eigentlich Labour gebührt. Doch die irischen Sozialdemokraten haben die Sparpolitik jahrelang mitgetragen und dümpeln laut Umfragen bei vier Prozent.
Lange galt Sinn Féin als politischer Arm der IRA - was sowohl Fine Gael als auch Fianna Fáil für sich zu nutzen wissen. Man denke gar nicht an eine Zusammenarbeit mit den Republikanern, heißt es da. Die Partei habe "Blut an den Händen".
Eine Wiedervereinigung Irlands ist nach wie vor das erste Ziel der Republikaner. Parteichefin McDonald will schon in den kommenden fünf Jahren ein Referendum darüber abhalten lassen. Ein Wahlsieg der Sinn Féin wäre somit ein Erdbeben für die irische Politik. Doch ist Vorsicht geboten: Sinn Féin könnte im Zieleinlauf verlieren und deutlich hinter den Umfragen bleiben. Es wäre nicht das erste Mal. Liegen die Umfragen halbwegs richtig, rückt das Land jedenfalls nach links. Demnach kommen progressive Parteien wie Sinn Féin, die Grünen und Labour auf knapp 40 Prozent. Zusammen kommen Fianna Fáil und Fine Gael nur auf ein paar Prozentpunkte mehr.
Der prognostizierte Wahlerfolg hat selbst die Sinn Féin überrascht. Die Partei hat nicht einmal genug Kandidaten aufgestellt, um bei einem Erdrutschsieg alle ihre Sitze im Parlament einzunehmen. Mit nur 42 Kandidaten könnte Sinn Féin keine Mehrheitsregierung stellen, wohl aber eine Schlüsselrolle bei der Bildung einer Koalition spielen.