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Steiniger Weg in die Unabhängigkeit

Von Zarko Radulovic

Europaarchiv

Festgefahrene Positionen im Streit um den Status. | Wirtschaftliche und sicherheits- politische Probleme belasten Kosovaren. | Belgrad/Pristina/Wien. "Natürlich haben wir uns etwas mehr erwartet, aber wichtig ist, dass wir unseren Staat haben." Der 32-jährige Kosovo-Albaner Ibrahim spricht vielen Landsleuten aus der Seele. Vor zwei Jahren ging der historische Traum vieler Kosovo-Albaner in Erfüllung. Mit der Proklamation der Unabhängigkeit durch das Parlament in Pristina am 17. Februar 2008 wurde die Republik Kosovo geschaffen.


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Für Albaner und Befürworter der Unabhängigkeit ist der Kosovo seither ein souveräner Staat, für viele Kritiker ein "unfertiger" oder gar nicht existierender Staat, für Belgrad weiterhin "Teil Serbiens".

Pristina zeigt sich offiziell zufrieden: Der Kosovo ist von den USA und 22 EU-Ländern anerkannt worden - von den wirtschaftlich mächtigsten Staaten also, wie der Kosovo-Präsident Fatmir Sejdiu feststellte. Zudem sei die politische und wirtschaftliche Stabilität aufrechterhalten worden.

Die Erwartungen Pristinas und der Kosovo-Unterstützer waren jedoch ganz sicher weit größer. Tatsächlich geriet der internationale Anerkennungsprozess im vergangenen Jahr gehörig ins Stocken. So haben bisher 65 der insgesamt 192 UNO-Staaten den Kosovo anerkannt - und nicht alle dieser Länder nahmen diplomatische Beziehungen mit Pristina auf. Zudem gibt es in Brüssel keinen einheitlichen Standpunkt: Fünf EU-Mitglieder (Griechenland, Rumänien, Slowakei, Spanien, Zypern) weigern sich weiter beharrlich, den Kosovo anzuerkennen.

Belgrad hält eisern an seiner Position fest: Der Kosovo wird weiter als nicht vom Mutterland zu trennende südserbische Provinz betrachtet. Und daran wird sich in absehbarer Zeit wohl auch nichts ändern, möge die Regierung noch so demokratisch orientiert sein.

Werben um Akzeptanz

Beide Seiten mobilisieren alle - außer die militärischen - Kräfte und Mittel, um die Entwicklungen in für sie günstige Bahnen zu lenken. Pristina wirbt unermüdlich um weitere Anerkennungen und kann sich der Hilfe mächtiger westlicher Verbündeter sicher sein. Gleichfalls scheut Belgrad keine Mühe, Staaten von gerade diesem Schritt abzuhalten. Der serbische Außenminister Vuk Jeremic reist zu diesem Zweck seit zwei Jahren nahezu permanent um die Welt. Und beide Seiten setzen große Hoffnungen in den Internationalen Gerichtshof, der derzeit die völkerrechtliche Gültigkeit der Unabhängigkeitserklärung prüft (siehe Kasten unten).

"Die Serben müssen sich endlich mit der Realität abfinden. Der Kosovo ist unabhängig, und wir wollen mit Belgrad nichts mehr zu tun haben", bringt der Arzt Ibrahim die Stimmung der Kosovo-Albaner auf den Punkt.

Diametral entgegengesetzt die Meinung der meisten Serben: Nach Umfragen sind mehr als 80 Prozent von ihnen strikt gegen die Kosovo-Unabhängigkeit.

"Der Kosovo war, ist und wird immer Teil Serbiens bleiben", betont der 28-jährige Student Milorad. "Die Albaner hätten alles haben können, wir haben ihnen alles geboten, damit sie gut leben können. Aber einen eigenen Staat? Nein, das geht zu weit. Damit werden wir uns nie abfinden", pflichtet die Verkäuferin Sara bei. Sie ist zudem überzeugt, dass der Kosovo niemals UNO-Mitglied werden könne.

Unter der Armutsgrenze

Die mögliche Aufnahme des Kosovo in die UNO ist sicherlich noch ein fernes Ziel. Hier kann Belgrad vor allem auf die Unterstützung Russlands bauen. Immerhin ist der Kosovo voriges Jahr in den Internationalen Währungsfonds und die Weltbank aufgenommen worden.

Dennoch warten auf den Kosovo mit seinen vielen Problemen weitere riesige Herausforderungen. Und nicht nur auf Pristina: auch auf Belgrad, die EU und die UNO. Neben der noch immer unklaren politischen Zukunft stellen die triste Wirtschaftslage und die organisierte Kriminalität zwei besonders große Brocken dar.

Die Arbeitslosigkeit im Zwei-Millionen-Einwohner-Land liegt nach offiziellen Angaben bei mehr als 40 Prozent. Das Außenhandelsdefizit hat die Milliarden-Euro-Marke längst überschritten. Etwa 40 Prozent der Bevölkerung leben unter der Armutsgrenze und müssen mit weniger als 1,37 Euro am Tag auskommen. Viele Familien können nur durch Überweisungen ihrer im Westen arbeitenden Familienmitglieder überleben. Ausländische Investoren sind sehr zurückhaltend. Die Infrastruktur ist in einem desolaten Zustand. Den Menschen fehlt oft Strom. Wirtschaftliche Chancen sehen Experten am ehesten im Bergbau. An Bodenschätzen ist insbesondere Braunkohle vorhanden.

Die Bekämpfung der Korruption und organisierten Kriminalität stellt sich als besonders schwierig dar. Der Kosovo ist nach Einschätzung vieler Beobachter ein Dreh- und Angelpunkt der Kriminalität in Europa. Menschenrechtsorganisationen kritisierten gar hohe Politiker, in Korruption und organisierte Kriminalität tief verwickelt zu sein.

"Wir müssen den kriminellen Banden das Handwerk legen. Erst dann kann es einen Rechtsstaat geben", betont der 55-jährige Verkäufer Hashim. "Aber dafür müssten eigentlich zuerst einige hohe Herren aus der Politik verschwinden", fügt er hinzu.

Beim Aufbau eines Rechtsstaates spielen das von Pieter Feith geleitete Internationale Zivilbüro (ICO) und die EU-Rechtsstaatsmission Eulex eine entscheidende Rolle. Mit großartigen Ergebnissen können sie sich aber noch nicht schmücken. Die Fortschritte im Kosovo sind marginal und schleppend dazu. Das Land hängt in jeglicher Hinsicht von ausländischer Hilfe ab. Die politische und rechtliche Zukunft ist nicht wirklich definiert.

Stabilität blieb aus

Ein Dorn im Auge ist den Kosovo-Albanern vor allem der Norden des Kosovo, wo die Serben eine kompakte Mehrheit stellen. Pristina will in Kooperation mit dem ICO den Norden allmählich eingliedern. Doch Belgrad und die Serben im Kosovo wollen davon nichts wissen, lehnen jegliche Kooperation mit der von ihnen in Pristina nicht anerkannten Regierung ab und bauen Parallelstrukturen - ähnlich wie die Albaner einst in Jugoslawien - ständig aus. Im Brennpunkt steht die durch den Fluss Ibar geteilte Stadt Kosovska Mitrovica, wo im Norden überwiegend Serben leben und im Süden Albaner und wo trotz der sehr starken Präsenz internationaler Truppen die Gefahr von Gewaltausbrüchen immer gegeben ist.

Die Balkan-Kriege der 1990er-Jahre sind zwar Geschichte, doch eine wirkliche Stabilität und Befriedung konnte durch die versuchte territoriale Neuordnung nicht erreicht werden. Die wirtschaftlichen und sicherheitspolitischen Probleme sind enorm. Wohl haben sich die meisten Albaner mit der Ausrufung der Unabhängigkeit nicht sofortigen Wohlstand erwartet, doch könnte die Geduld der Menschen bald überstrapaziert werden. Dennoch spricht Ibrahim von einer "Erfolgsstory": "Denn wir haben unseren Staat, etwas, was sich viele Generationen vor uns wünschten. Und das ist entscheidend."

Wissen: Umstrittenes Völkerrecht

(radu) Der völkerrechtliche Status des Kosovo ist umstritten. Der Internationale Gerichtshof prüft derzeit, ob die Unabhängigkeitserklärung durch das Parlament in Pristina im Einklang mit dem Völkerrecht steht. Erwartet wird, dass das Gutachten Mitte des Jahres vorliegt.

Pristina ist zuversichtlich, dass das Gutachten die internationale Anerkennung des Kosovo vorantreiben wird und dass am Status nicht mehr gerüttelt werden kann. Belgrad hingegen ist überzeugt, dass die einseitige Unabhängigkeitserklärung nicht im Einklang mit der UNO-Resolution 1244, der UNO-Charta und dem Völkerrecht stehen könne und hofft auf eine Wiederaufnahme der Ende 2007 in Wien ohne Einigung beendeten Verhandlungen über den Kosovo-Status.

Der Status ist selbst unter Völkerrechtsexperten umstritten. Einige berufen sich auf die vom Regime des jugoslawischen Ex-Präsidenten Slobodan Milosevic begangenen Menschenrechtsverletzungen, die das Selbstbestimmungsrecht gerechtfertigt hätten und sprechen vom "Sonderfall" Kosovo. Andere sehen einen eklatanten Bruch des Völkerrechts. Die Geschichte kenne keinen Fall, bei dem einem demokratisch legitimierten Staat in Friedenszeiten ein Teil des Territoriums weggenommen worden sei. Und sie warnen vor einem Präzedenzfall, den sich andere Völker zum Vorbild nehmen könnten.