700 Milliarden Euro stecken im Rettungsschirm für die Eurowährung. Der Homo Sapiens kommt gut damit aus und stellt sich dabei gar nichts vor.
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Da die Evolution viele Generationen verbraucht, bis sie irgendeine Veränderung erreicht, kann der Einzelmensch schwer feststellen, was vor sich geht. Seit ein paar Jahren scheint aber eine Beschleunigung eingetreten zu sein.
Die Synapsen im Hirn verkraften regungslos die Nachricht, dass der EU-Währungsfond zur Absicherung des Euro auf 700 Milliarden aufgestockt wird. "Na und", lautet auch eine alltägliche Reaktion auf die Meldung, dass eine Bank zwei Milliarden in den Sand gesetzt hat oder dass ein Berater zehn Millionen Euro kassieren kann, ohne genau zu wissen wofür. Lediglich im aktuellen Fall des EU-Abgeordneten Ernst Strasser scheint die Summe von 100.000 Euro für dubiose Lobbytätigkeit zu gering, nämlich gerade noch fassbar zu sein, weshalb die Empörung entsprechend groß ist. Vielleicht ist 100.000 beziehungsweise die Sechsstelligkeit einer Zahl die kritische Grenze, oberhalb der sich die Aufregung nicht mehr lohnt.
Was unterhalb vorgeht, wird folgerichtig zur wahren Herausforderungen, und ein Skandal ist die Strasser-Affäre sowieso. Aber auch ein paar Monate längere Pensionszeit dank der Hacklerregelung, die Zumutung einer Ministerin, dass Lehrer zehn Minuten länger in Klassenzimmern tätig sein sollten, oder die Frage, ob die Familienförderung zwölf- oder dreizehn Mal ausgezahlt wird: Das rührt ans Existenzielle und treibt die Zeitgenossender Milliarden-ära an, sich für den Überlebenskampf zu rüsten.
Die saloppe Anpassungsfähigkeit an riesige Größenordnungen funktioniert hingegen nicht nur beim Geld. Selbst die furchtbare Erdbebenkatastrophe in Japan trägt zur Konditionierung für Unvorstellbares bei. Seit dem großen Erdbeben am 11. März hat es in Japan mindestens 60 Nachbeben gegeben, die aber hier in Europa dank unserer Fixierung auf den atomaren GAU wie Randerscheinung ignoriert werden. Und auch die Zahl von mindestens 20.000 Tsunami- und Bebenopfern dringt nur mühsam ins Bewusstsein.
Ist es Wirklichkeitsverweigerung? Wenn ja, bleibt dennoch die Frage offen, ob die menschliche Vorstellungskraft von der Realität abrückt oder im Gegenteil dabei ist, deren ganze und leider bedrohliche Dimension wenn schon nicht zu verstehen, so doch ahnen zu lassen. Darüber sind sich auch die Analytiker der Weltwirtschaftskrise bis heute nicht einig geworden.
Wir selber auch nicht. Seit die kalten und schneereichen Winter zur raren Ausnahme wurden, machen die Wetternachrichten eine kuriose Metamorphose durch. Jedes kühle Lüftchen, das auch noch im März durch Wiens Gassen blasen kann, wird als "eisig" apostrophiert. Fallen ein paar Schneeflocken, wird "Schneetreiben" konstatiert, bei mehr Schneeflocken ein "Schneesturm". Und genauso reden dann die Leute beim Gemüsestand. Beide Aussagen bilden zwar nur die zerebrale Substitution der Wahrnehmung durch Erinnerung, weil ein richtiger Winter eben eisig zu sein hat, sie lassen sich aber wenigstens realisieren, indem Schneekanonen in alpiner Mittellage einen Winter vorspiegeln, den es nicht mehr gibt. Aber gegen das Ausbleiben der Wirtschaftskonjunktur gibt es keine technische Aufrüstung, weshalb wir uns in den großen Zahlen fast schon wieder geborgen fühlen. Deren Bedeutung kann sich sowieso niemand vorstellen.
Der Autor ist Sprecher der Initiative Qualität im Journalismus; zuvor Journalist bei "Wirtschaftsblatt", "Presse" und "Salzburger Nachrichten".