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Stellungswechsel

Von Veronika Eschbacher

Politik

Die Regierung in Kiew startet "Totalangriff" auf Rebellen-Rückzugsorte Donezk und Luhansk.


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Slawjansk. "Eigentlich normal", sagt der ukrainische Soldat auf die Frage, wie denn die Armee in Slawjansk aufgenommen wurde. "Sie danken uns, also mehr oder weniger. Was bleibt ihnen denn auch anderes übrig." Vor wenigen Tagen war es nach monatelangen Kämpfen der ukrainischen Armee gelungen, das ostukrainische Slawjansk zu erobern. Die Stadt galt als Hochburg der Aufständischen, als der Ort, von dem aus der gesamte militärische Kampf der Rebellen der selbst ausgerufenen "Donezker Volksrepublik" gegen die neue Führung in Kiew koordiniert wurde. Slawjansk war wochenlang praktisch abgeriegelt, es gelang nur wenigen Journalisten - zumeist russischen -, dorthin vorzudringen. Erste Bilder aus den am schwersten umkämpften Bezirken haben apokalyptischen Charakter - durch Artilleriebeschuss halb eingestürzte Häuser, tiefe Krater in den Straßen durch Mörsergranaten, abgerissene Gasleitungen. Die Bewohner der Stadt versuchen nun, zur Normalität zurückzukehren.

Seit Wochen gibt es in der Stadt weder Wasser noch Elektrizität. Keine Telefonleitungen funktionierten, der Bahnhof war seit Anfang Mai, dem Beginn der "Anti-Terror-Operation" der Kiewer Regierung gegen die Aufständischen, gesperrt. Überall arbeiten nun Techniker an den Reparaturen. Die Checkpoints der Rebellen sind verlassen. Mit den ukrainischen Soldaten kommt nun humanitäre Hilfe. In den bis vor kurzen noch von den Aufständischen besetzten öffentlichen Gebäuden werden Brot und Wasser verteilt, davor stehen Lastwagen voll mit Kartoffeln und Kraut. Erstmals seit langem können die Bewohner sich in der Stadt wieder frei bewegen.

Und erstmals seit langem können in der Stadt, die den Rebellen viel Unterstützung zuteil werden ließ, wieder Pro-Kiew-Gesinnungen offen ausgedrückt werden. "Als die Banditen hier waren, waren sie alle Helden!", ruft eine Frau aufgeregt auf dem Hauptplatz der Stadt und zeigt auf die Menschen, die sich in langen Schlangen um Hilfsgüter angestellt haben. "Und jetzt schweigen sie! Dabei sind die Hälfte von ihnen selbst Terroristen und Separatisten, oder unterstützen sie nach wie vor!", erklärt die Frau einem Fernsehjournalisten aufgebracht.

In sozialen Medien kursieren mittlerweile Bilder von Urnen, die in der Stadt aufgestellt worden sein sollen, über die "anonym" Angaben über Unterstützer der Aufständischen gemacht werden können. Ganz traut die Armee den Menschen vor Ort offenbar noch nicht. Viele Militärs laufen nach wie vor in schweren Schutzwesten und mit dem Finger am Abzug durch die Stadt.

Dass die Nerven nach wie vor angespannt sind, zeigt auch eine Vice-News-Reportage aus Slawjansk, in der sich ein Bewohner der Stadt bei einem Soldaten beschwert, dass es zu wenig Wasser gebe. Dieser antwortet ihm, er hätte doch drei Monate ausgeharrt, er möge doch noch zwei, drei Tage aushalten, bis alles wiederhergestellt sei. Den Mann stellt die Antwort aber nicht wirklich zufrieden. "Wie alt sind Sie?", fragt ihn der Soldat. 84, antwortet der Mann. "Sehen Sie, ich bin 20, und mein Kamerad war 19. Er ist gestorben, um diese Stadt zu befreien, und Sie stellen hier Forderungen!", entfährt es ihm.

Mit der Rückeroberung beginnt die Bestandsaufnahme der Schäden. Täglich werden neue Zahlen über die Kosten des Wiederaufbaus genannt. In der Stadt hängen Flugzettel aus, auf denen Stellen angegeben sind, an die sich Bürger wenden können, deren Häuser im Zuge der "Anti-Terror-Operation" beschädigt wurden. Die Führung in Kiew hat offenbar dazugelernt - sie will es sich mit den Bewohnern, die sich von Kiew unverstanden sahen, nicht noch einmal verscherzen.

Neue Großoffensive der Armee

Aber nicht nur in Slawjansk, auch auf dem Rückzugsweg der Rebellen sind massive Spuren der Kämpfe zu sehen. Der selbst drei Tage lang von Rebellen in Geiselhaft genommene Vice-News-Reporter Simon Ostrovskij zeigt Bilder des Ortes, an dem eine Rückzugskolonne der Rebellen von der ukrainischen Armee gestoppt wurde. Ein halbverkohlter, von Maden zerfressener Oberkörper eines Mannes liegt neben ausgebrannten Fahrzeugen.

Wie die Aufständischen ihren Kampf weiterführen wollen, verkündete Pavel Gubarew, der Gouverneur der selbstausgerufenen Donezker Volksrepublik, im Rückzugsort der Rebellen, der Millionenstadt Donezk: "Wir werden einen echten Partisanenkrieg lostreten", sagte er vor einer kleinen, aber jubelnden Menge am Mittwoch. Ob ihm das gelingt, ist offen. Am Donnerstag startete die Armee eine Großoffensive gegen Rebellen-Stellungen im Osten des Landes. Bei den Städten Donezk und Lugansk habe ein "Total-Angriff" an "mehreren Frontabschnitten" begonnen, teilte das Innenministerium in Kiew mit. Man rechnet mit einer bis zu einem Monat andauernden Offensive zur Rückeroberung der beiden Städte. Um zivile Opfer möglichst zu vermeiden, seien aber keine "Artillerie- oder Luftangriffe" auf die Rebellenbastionen geplant.

Simon Ostrovskys Erlebnisbericht von seiner Entführung