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Sterben in der digitalen Welt

Von Christina Böck

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"Der Himmel über Chicago hat sich geöffnet und Patricia Lyons Simon Newman hat die Bühne betreten. Sie wird den Himmel so glänzen lassen, dass sich die Welt in die Nacht verlieben wird." Mit diesen Sätzen hat der US-Journalist Scott Simon kürzlich den Tod seiner Mutter verkündet. Nicht in einer Parte für Familie und Freunde. Nein, für 1,2 Millionen Follower auf Twitter. Der Radiomoderator hat auf der Kurznachrichtenplattform das Sterben seiner Mutter dokumentiert. Quasi in Echtzeit livegebloggt.

Nun klingt das nach einer beispiellosen Geschmacklosigkeit. Dennoch wurde Scott Simon dafür gefeiert, dass er Trauerarbeit sozusagen in das Zeitalter der Sozialen Netzwerke gebracht hat. Die "Los Angeles Times" rühmte ihn dafür, das Thema Tod, von der Zeitung nach wie vor als Tabu diagnostiziert, stärker in die Öffentlichkeit geholt zu haben.

"Ich weiß, dass das Ende nah ist, weil heute der erste Tag meines Erwachsenenlebens ist, an dem ich meine Mutter sehe und sie nicht zu mir sagt: "Warum dieses Hemd?‘", lautet einer der durchaus zu Herzen gehenden Einträge. Und doch kommt man nicht umhin, sich zu fragen, ob die sterbende Mutter sich darüber im Klaren war, dass ihr Leiden mit 1,2 Millionen Fremden weltweit geteilt wird. Wer schon einmal einen Sterbenden bis zum Ende begleitet hat, der weiß um die immense Intimität der Situation. Und der weiß, dass es da Wartezeiten zu überbrücken gibt. Manche Leute beten zum Beispiel. In diesem Moment das Handy rauszuholen und mal eben das neueste Bulletin rauszutwittern, mag ja modern und hip sein. Besonders respektvoll ist es freilich nicht.