Der Chefökonom der Arbeiterkammer über Deglobalisierung und die Notwendigkeit einer Solidarabgabe.
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Genau für Zeiten wie diese gebe es den Sozialstaat, findet der Ökonom Markus Marterbauer. Und er fordert für die Zukunft Solidarität: Die Lasten müssten auf den breitesten Schultern abgeladen werden.
"Wiener Zeitung": Manche Politiker hoffen, dass die Rezession V-förmig verlaufen wird - soll heißen: rascher Absturz, rasche Erholung. Ist diese Hoffnung berechtigt?Markus Materbauer: Leider nein. Die Erfahrung der Wirtschaftskrise von 2008/2009 war, dass auf den schnellen Einbruch eine lange Stagnation folgte. Somit halte ich die Vorstellung, die Arbeitslosigkeit würde rasch zurückgehen, und die Idee, ein Nulldefizit könnte die jetzt angehäuften Schulden abtragen, für eine Illusion.
Besteht gar die Gefahr einer L-förmigen Rezession - also ein plötzlicher Absturz, auf den eine längere Depression folgt?
Diese Gefahr besteht durchaus. Aber die Politik hat die Instrumentarien und das Wissen, das zu verhindern. Bisher wurde vieles richtig gemacht: Die Notenbanken haben nach dem ersten Schock rasch Liquidität bereitgestellt und damit die Finanzmärkte stabilisiert. Damit die Wirtschaft wieder Tritt fasst und man die sozialen und wirtschaftlichen Folgen in den Griff bekommt, brauchen wir aber jetzt fiskalpolitische Maßnahmen: Hilfe für die Betroffenen und umfangreiche öffentliche Investitionen. Insbesondere dann - und das wäre vernünftig -, wenn man die Krise nutzen will, um einen Strukturwandel einzuleiten. So zeigt sich jetzt, dass der Wohlfahrtsstaat für das Funktionieren der Wirtschaft viel wichtiger ist, als manche Akteure bisher angenommen haben: Gesundheitswesen, Pflege, Schule, Kindergarten. Dazu kommt der notwendige Kampf gegen die Klimakrise, der umfangreiche öffentliche Investitionen braucht.
Kommt es nach dieser Krise zu einer industriepolitischen Neuorientierung Europas und zu einer Deglobalisierung?
Da war bereits einiges vor der Covid-Pandemie in Gang. Ich denke, wir werden nun eine Renaissance der europäischen Industriepolitik erleben. Wenn die Corona-Krise überstanden ist, wird man sich überlegen, welche Produktionen man innerhalb der EU in jedem Fall braucht und wie man sicherstellen kann, dass es diese Produktionskapazitäten innerhalb der EU gibt - etwa im medizinischen Bereich. Eine Neubewertung von Risiken führt dazu, dass man Effizienz anders definiert. Es mag zwar sein, dass es angesichts von Transportpreisen, die die Umweltkosten nicht berücksichtigen, kurzfristig teurer ist, in Europa gewisse Güter zu produzieren. Aber jetzt sehen wir: Wenn wir das dem freien Markt überlassen, stehen wir am Ende ohne Antibiotika und Schutzmasken sowie einer kaputten Umwelt da.
Der Klimawandel sei ein wenig so wie die Corona-Pandemie - nur eben in Zeitlupe, sagen Klimaschützer. Ist da etwas dran?
Durchaus. Die Lehre aus der Corona-Krise für den Klimaschutz: Je vorsorglicher und früher man in öffentliche Verkehrssysteme, erneuerbare Energiesysteme oder bessere Wärmedämmung investiert, desto geringere Kosten hat man langfristig. Wir müssen die Marktwirtschaft neu denken: Es braucht einen ganzheitlichen Blick, der den langfristigen gesellschaftlichen Wohlstand im Auge hat. Das Schielen auf Quartalsergebnisse und kurzfristige Profite auf Finanzmärkten ist toxisch.
Die heranrollende Wirtschaftskrise betrifft in Österreich unterschiedliche Regionen höchst unterschiedlich: Vor allem Tourismusregionen müssen sich auf das Schlimmste vorbereiten. Droht im Westen der Implosion des Tourismus?
Das ist schon Realität. Was man jetzt überlegen sollte: Welche Art von Wirtschaft will man? Ist eine ausdifferenzierte Wirtschaft - wie in Vorarlberg - einer Konzentration auf den Tourismus wie in Tirol überlegen? Können wir uns Billigtourismus, der noch dazu massiv von der öffentlichen Hand subventioniert wird, leisten?
Subventioniert?
Die Arbeitskosten werden über die Arbeitslosenversicherung subventioniert. Mit niedrigen Löhnen und schlechten Arbeitsbedingungen subventionieren die Beschäftigten viele Betriebe. Wäre es da nicht vernünftiger, Gelder in Industriepolitik, Bildung, den Ausbau von Gesundheit und Pflege sowie bessere Arbeitsplätze zu stecken? Ein Strukturwandel im Tourismus ist längst überfällig und ist im Interesse Österreichs.
Wie soll dieser Strukturwandel Ihrer Meinung nach aussehen?
Eine Hinwendung zum Qualitätstourismus mit besserer Bezahlung und besseren Arbeitsbedingungen ist der richtige Weg. Das Land hat genug zu bieten.
In der Corona-Krise feiert der starke Staat eine Renaissance. Welche Rolle wird der Staat in den kommenden Monaten spielen?
Sicherlich eine viel größere als zuletzt. Wobei ich das ambivalent sehe. Welcher Staat ist gemeint? Ein autoritärer Überwachungsstaat? Oder ein fürsorglicher Wohlfahrtsstaat? Der Wohlfahrtsstaat bewährt sich jedenfalls gerade - vor allem das Gesundheitssystem. Wenn man bedenkt, dass die USA - gemessen an ihrer Wirtschaftsleistung - für ihr Gesundheitssystem pro Kopf fast 70 Prozent mehr ausgeben als Österreich und dennoch der breiten Masse keine ordentliche Versorgung bereitstellen, dann zeigt das deutlich die Überlegenheit unseres Wohlfahrts-Modells. Dazu kommt die Stabilität durch soziale Sicherungssysteme, die den Menschen gerade in dieser angsteinflößenden Zeit Vertrauen und Sicherheit geben. Und siehe da: Plötzlich sind die Neoliberalen, die sich sonst den lieben langen Tag über die Ineffizienz des Sozialstaates mokieren, ganz still und leise.
Wenn in ein paar Monaten das Volumen des Scherbenhaufens bekannt ist, wird es darum gehen, wer für den wirtschaftlichen Schaden aufkommt. Wie sollen die Lasten verteilt werden?
Wir erleben den tiefsten Wirtschaftseinbruch seit 1945, er wirft uns allerdings nur auf das Niveau der Wirtschaftsleistung von 2015 zurück. Das Hauptproblem ist die höchst ungleiche Verteilung des Schadens. Arbeitslose, Einpersonenunternehmen oder Kleinbetriebe ohne Umsätze sind in ihrer Existenz gefährdet, während größere Unternehmen mit einer dickeren Kapitaldecke ausgestattet sind. Wer denkt an Schülerinnen und Schüler aus bildungsfernen Schichten, die gerade im Homeschooling abgehängt werden und den Rückstand in Bezug auf Einkommen und Beschäftigungschancen vielleicht ihr ganzes Leben nicht aufholen können? Wir brauchen einen breiten Konsens in der Gesellschaft darüber, dass die wirtschaftlichen und sozialen Folgen dieser Krise nicht auf die schwächsten Gruppen abgewälzt werden dürfen. Die wirtschaftlich stärkeren müssen jenen helfen, die schwer getroffen wurden, das ist Solidarität. Breite Schultern können größere Lasten tragen. Eine Solidarabgabe auf hohe Vermögen und Einkommen ist aus meiner Sicht dringend notwendig.
Wie könnte die aussehen?
Am meisten würde eine - vielleicht auch nur befristete - Vermögensabgabe bringen: Je nach Ausgestaltung fünf bis neun Milliarden Euro pro Jahr. Die unmittelbaren Kosten der Krise sind mit niedrigen Zinsen und reformierten EU-Fiskalregeln zu meistern. Für die notwendigen Investitionen in die Zukunft - etwa beim Klimaschutz oder beim Sozialstaat brauchen wir neues Geld. Diese Fragen werden auf nationalstaatlicher Ebene verhandelt, auf europäischer Ebene muss die Flucht in Steuersümpfe verhindert werden. Solidarität auch mit europäischen Nachbarn und wichtigen Handelspartnern wie Italien ist für Österreich wichtig: zum Beispiel durch gemeinsame EU-Anleihen zur Finanzierung der Corona-Kosten. Die österreichische Wirtschaft ist insgesamt recht gut aufgestellt. In dieser Situation verleiht auch die Sozialpartnerschaft der Wirtschaft Stehvermögen und Widerstandskraft. Zudem sind Infrastruktur und Sozialstaat in Österreich relativ gut ausgebaut und das macht es leichter, flexibel auf die Herausforderungen zu reagieren. Öffentlicher Sektor und Verwaltung beweisen ihre Handlungsfähigkeit.