Achtung Fußball-Aussteiger: Nicht alles, was in einer auf Public-Viewing-Wände projektierten Dramatik gipfelt, ist die Euro 2008.
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In der Kategorie von Halbzeiten gesprochen, ließen sich die ersten elf Tage
der Fußball-Europameisterschaft auf dem Ziffernblatt als Dreiviertelstunde markieren: vier Minuten für jeden Spieltag. So vergeht die Tortur schneller, wir werden die zweite Halbzeit auch hinkriegen.
Im Mittagsjournal verliest der Schriftsteller Franzobel gerade einen gescheiten Essay über Fußball und Tod. Verlieren ist Ende. Verloren wird an jedem Tag, ein einziges Verlustgeschäft. So viel Verlust und Ende in unserer symbolischen Dreiviertelstunde, so viel Austausch von Spielerausschussware!
Aus kommunikationstechnischer Sicht ist die Euro 2008 in allen Medien ein totalitäres Ereignis. Die Zeitungen preisen die EM-Beilagen als Werterhöhung an. Aus dem Fußball-Totalitarismus des ORF gibt es keine Flucht durch Programmwahl, sondern nur durch Totalabstinenz. Wie macht das eigentlich der ORF? Der hat ja lediglich 24 Stunden Sendezeit, und da er diese mit der Euro 2008 vollstopft, fragt man sich: Was hätte der ORF ohne die Europameisterschaft im Juni ausgestrahlt? Gar nichts? Und was sendet er nachher?
Die Frage ist existenziell, denn aus jedem Journal rollt derzeit der Fußball erbarmungslos auf Hörer und Seher zu. Kein Wetterbericht ohne präzise Vorausschau für die Kleinwetterzone Wiener Happel-Stadion. Südosteuropa-Korrespondent Christian Wehrschütz muss in Zagreb ausrücken, um in Erfüllung des Informationsauftrags über ein paar hundert kroatische Fußball-Fans zu berichten, deren Hoffnung soeben in Wien gestorben ist, weshalb sie auf Zagrebs Straßen lebendig werden. Zum Glück ist Wehrschütz kein Fußballreporter und erledigt die Sache in seiner üblich getragenen Stimme, während die Nachfolger Edi Fingers immer so schreien, manchmal schon im Morgenjournal.
Zagreb gibt zurück an Wien, aber es ist noch immer nicht aus, denn jetzt folgt die Vorschau, wie die Deutschen mit den siegreichen Türken umgehen werden. Wir erleben eine große Zeit. "Die Türken haben Moral gezeigt", sagt einer, der entweder Experte für Türken oder für Moral oder für das Auffüllen von Sendezeiten ist.
Peinlicher Aussetzer
Das Nicht-Fußballerhirn, vollgetrichtert mit einem Jahrhundertereignis, erlebte vergangenen Donnerstag einen peinlichen Aussetzer: Staatsoper, Don Carlos nach der Regie von Peter Konwitschny. In der Pause und vor dem Autodafé lässt sich eine durch die Pausenräume rasende Einpeitscherin für ein Großereignis filmen, es kann nur um die Euro gehen. "In der Oper ist der Teufel los", schreit sie.
Aber nein, Konwitschny hat alles schon vor Jahren vorausgesehen: Public Viewing ist das kollektive Erlebnis auch in der Fanzone der Opernbesucher. Diese scharen sich entlang und über der Feststiege und erleben das dramatische Inquisitionsereignis in Natur und auf der Leinwand und auch sich selber, und danach gehts auf der Bühne weiter. Die Schaulust der Gegenwart hat in Giuseppe Verdi Erfüllung gefunden, Verdi hat ja allen Ernstes viel vom Spektakelmachen verstanden.
Vielleicht erleben wir einen Kulminationspunkt und wissen es noch nicht. Die zweite Halbzeit läuft. Wir sind alle patriotisch, aufgewühlt und warten, wie sie ausgeht. Bei Don Carlos endete das Public Viewing immer tragisch, im Fußball hat das Glück wenigstens die Chance von 50 Prozent. Die letzten Spieltage für Don Carlos sind der heutige Dienstag und übermorgen. Es spielt Spanien gegen Flandern oder so ähnlich. Schauen wir diesmal vor dem Rathaus zu?