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Stiefkind Europas sucht Anschluss

Von Denise von Cles

Europaarchiv

Tirana - Auf dem Weg vom Flughafen nach Tirana bietet sich ein überraschendes Bild: Statt trister grauer Plattenbauten aus kommunistischen Zeiten säumen elegante Hochhäuser in bunten Farben die Straße. Überall erheben sich Kräne, das Baugewerbe hat offenbar Hochkonjunktur. Fast jedes zweite Auto ist ein Mercedes, wenn auch nicht ganz funkelnagelneu. Aber etwas erinnert doch noch an die 40 Jahre totalitärer Herrschaft Enver Hoxhas in einem hermetisch nach außen abgeriegelten Land: die kleinen Iglu-artigen Bunker, die sich bis in die entlegensten Berggegenden ausbreiten. Insgesamt sollen es über 750.000 sein.


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Mit dieser "Bunker-Mentalität" wollen die Albaner nun offenbar endgültig brechen. Hatte man sich zunächst an Titos Jugoslawien, dann an die Sowjetunion und bis 1978 an die Volksrepublik China angelehnt, sehen Politiker und eine überwältigende Mehrheit der Bevölkerung die EU jetzt als den Rettungsanker. Aus Brüssel soll das Geld fließen, das dem bitterarmen Land fehlt. Das Durchschnittseinkommen beträgt gerade 100 Dollar im Monat.

Allerdings machen sich weder Politiker noch Intellektuelle Illusionen über den schwierigen Weg nach Brüssel. Präsident Alfred Moisiu und Integrationsminister Sokol Nako wollen im Gespräch mit den ausländischen Journalisten keinen konkreten Beitrittszeitpunkt nennen. Gerechnet wird inoffiziell aber mit 15 Jahren oder länger, um die europäischen Standards zu erreichen. Die Albaner müssten in die "Zeitmaschine" steigen, um den Anschluss an Europa zu schaffen, schildert EU-Botschafter Lutz Salzmann die Lage.

Größte Hürde für das "Land der Skipetaren" auf dem Weg nach Brüssel sind organisiertes Verbrechen und Korruption, die die Wirtschaft nach dem Zusammenbruch des kommunistischen Regimes und dem Chaos in den Jahren 1997 und 1998, als viele Menschen ihr weniges Erspartes bei Pyramiden-Spielen verloren, völlig zerrüttet haben. Albanien ist zur Drehscheibe des Drogenhandels aus der Türkei, Ägypten und Südamerika über Italien nach Westeuropa geworden. Vier oder fünf teilweise bekannte "Familien" kontrollieren das lukrative Geschäft im Land. Allein in den ersten vier Monaten dieses Jahres beschlagnahmte die mazedonische Polizei 103 kg Haschisch an der Grenze zu Albanien.

"Was Sie hier sehen, ist vor allem investiertes Schwarzgeld", meint Salzmann und zeigt auf die Hochhäuser, die teilweise noch im Bau sind. In die mafiösen Geschäfte sind angeblich auch höchste Kreise verwickelt. Präsident Moisiu, der persönlich als sehr integer gilt, gibt das Problem offen zu: "Je mehr man versucht, dem Gegner die Gurgel zuzudrücken, um so heftiger wehrt er sich". Trotzdem glaubt er nicht, dass das organisierte Verbrechen das Land wieder destabilisieren könne.

Stolperstein Korruption

Auch die Korruption gehört wie in den meisten anderen Balkan-Staaten zu den Stolpersteinen, die aus Sicht Brüssels vorerst eine Mitgliedschaft in der Union ausschließen. Auch der sozialistische Regierungschef Fatos Nano, der im vergangenen Jahr mit überwältigender Mehrheit wieder gewählt wurde, saß wegen Korruption mehrere Jahre hinter Gittern. Der Direktor der Zollbehörde musste innerhalb weniger Monate dreimal ausgewechselt werden, einmal aus Unfähigkeit, das zweite Mal wegen krimineller Vergangenheit, wie Salzmann berichtet. Glück hatte man erst mit der dritten Kandidatin, einer früheren Mitarbeiterin beim IWF. Die Zölle, die in den westeuropäischen Ländern nur mehr einen Bruchteil ausmachen, gehören mit rund 50 Prozent neben den Steuern zu den größten Einnahmequellen des Landes. Kein Wunder, dass der Spitzenposten Begehrlichkeiten weckt.

Abgesehen vom Bausektor und etwas Landwirtschaft wird in Albanien kaum etwa produziert. Trotz der weitgehend unberührten Bergwelt und einsamen Traumstränden gibt es praktisch keine touristischen Infrastrukturen. 80 Prozent der Küste waren unter dem Kommunismus militärische Sperrzone. Von Wursterzeugnissen bis zu Kleidermode muss fast alles importiert werden. Die Exporte machen gerade 300 Mio. Euro im Jahr aus.

Exportartikel "Nummer Eins" sind die Menschen, erklärt Salzmann. Die Überweisungen der rund 500.000 Gastarbeiter tragen einen wichtigen Teil zum Bruttoinlandprodukt bei. Der illegalen Auswanderung nach Italien bereitete die Regierung im vergangenen September ein abruptes Ende. Sie ließ einfach die Schlauchboote in Vlora verbrennen. Die Verkehrsinfrastrukturen sind in erbärmlichem Zustand. Auf dem Bahnhof in Tirana stehen heruntergekommene Waggons mit zerschlagenen Fenstern, nur ein einziges Gleis führt hinaus. Die Straßen muten der Wirbelsäule wegen der zahllosen Schlaglöcher einiges zu.

Aufgeklärte Albaner zweifeln selber an der baldigen "Europa-Reife" Albaniens. "Wir müssen zu Hause anfangen", meint Sokol. Aber er hat auch einen Wunsch an die EU: Außer Geld und Beratung - etwa beim Aufbau der Polizei - sollte die Union auch eine Beitrittsperspektive in dem neuen Stabilisierungs- und Assoziierungsabkommen vorsehen, das Tirana mit Brüssel verbindet. Denn spätestens ab 2007 wird das kleine Land fast nur mehr von EU-Staaten umgeben sein.