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"Stiefmutter der russischen Städte"

Von Markus Kauffmann

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Markus Kauffmann, seit 1984 Wiener in Berlin, macht sich Gedanken über Deutschland.

Wer heute am Kurfürstendamm oder in den Seitenstraßen mit den noblen Geschäften flaniert, wird fast nur noch russische Sprachfetzen hören.


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Russisch ist mit rund fünf Millionen Sprechern (6,2 Prozent der Bevölkerung) noch vor Türkisch die am zweithäufigsten gesprochene Sprache in Deutschland. Allein in Berlin leben laut offiziellen Statistiken etwa 300.000 Menschen, deren Muttersprache Russisch ist.

Auch als Touristenmagnet zieht die deutsche Hauptstadt vor allem reiche Russen und deren Gattinnen an. Zweieinhalb Stunden Flugzeit von Moskau oder St. Petersburg machen einen Kurztrip in die deutsche Hauptstadt zum reinen Ausflugsvergnügen.

Spricht man mit Berliner Polizisten, wird man allerdings mit Klagen zur "Russenmafia" überhäuft: "Zuhälter, Betrüger, Geld-Wäscher, Drogen- und Menschenhändler, Autoschieber. Ihr Geschäft ist der Sumpf, die Prostitution. Sie bringen Pillen in die Discos, plündern Konten, verschieben Immobilien." Tatsächlich ist die Kriminalitätsrate unter den in Berlin lebenden Russen doppelt so hoch wie ihr prozentualer Anteil an der Bevölkerung.

Freilich lebt die weitaus überwiegende Zahl ganz brav und friedlich, gesetzestreu und steuerzahlend in der "Stiefmutter der russischen Städte", wie Berlin seit jeher von den Russen genannt wird.

Denn die russische Einwanderung in Berlin hat eine lange Tradition. In den 20er Jahren des vorigen Jahrhunderts waren es vor allem Menschen, die vor der Russischen Revolution und den Bürgerkriegswirren flüchteten. Allein 1923 suchten in Berlin 360.000 Russen Asyl.

Russische Geschäfte prägten das Stadtbild. Es kursierte ein Witz, ein alter Berliner habe sich in seiner Wohnung erhängt, weil er an einem Geschäft am Ku’Damm ein Schild mit der Aufschrift "Man spricht auch deutsch" gelesen habe.

Charlottenburg und der Kurfürstendamm waren nämlich die Hochburg der Emigranten. Bis heute hält sich der Spitzname "Charlottengrad" - und für den Kurfürstendamm "NEPski Prospekt" (in Anlehnung an den berühmten Newski-Prospekt in St. Petersburg und auf die NEP, die "Neue ökonomische Politik" Lenins).

Am Interessantesten waren die Intellektuellen und Künstler, die nach Berlin kamen - die Creme der Intelligenzija: der Schriftsteller Jessenin etwa mit seiner Frau Isadora Duncan, der symbolistische Dichter Andrei Belyi mit seinem Freund Rudolf Steiner, der Revolutionsdichter Majakowski, die tragische Dichterin Marina Zwetajewa, Boris Pasternak, der von Deutschenhass strotzende Ilija Ehrenburg oder der "Lolita"-Autor Wladimir Nabokov, der in Berlin als Privatlehrer, Übersetzer sowie Gelegenheitsschauspieler arbeitete und unter dem Pseudonym W. Sirin erste Prosa veröffentlichte.

Über diese Gruppe schrieb der Schriftsteller Lew Lunz, der im Jahr 1923 aus Petrograd nach Deutschland gekommen war: "Sie verzehren sich in der Sehnsucht nach ihrer Heimat, sie hassen die Deutschen nicht nur, sie sind ihnen physisch zuwider, und zwar alles Deutsche, von der Sprache bis zur Küche. Sie leben nur in der Erinnerung. Aber sie kehren nicht zurück. Warum? Das wissen sie selber nicht . . ."