Es ist nicht der erste Flüchtlingsstrom, den Österreich bewältigen muss. Warum scheint das Problem heute unlösbar?
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Wien. Im April 1992 schlägt eine Granate in die Küche der Familie M. in Mostar, Bosnien, ein. Der Bürgerkrieg in Bosnien-Herzegowina hat gerade begonnen und wird in den nächsten drei Jahren hunderttausend Menschen töten und 2,2 Millionen vertreiben. Darko M. war damals vier Jahre alt. "Meine Mutter hat mich und meine Schwester gepackt und ist mit meiner Oma nach Kroatien ans Meer gefahren und dann weiter nach Österreich", erzählt er heute. Sein Vater und sein Onkel waren schon hier.
20 Jahre später, im Morgengrauen des 22. Mai 2012, steigen der 15-jährige Mustafa Ali (Name auf Wunsch der Eltern von der Redaktion geändert, Anm.), seine zwei kleinen Brüder und seine Eltern aus einem Lkw. "Wir waren drei oder vier Tage unterwegs, ich weiß es nicht genau", sagt der junge Syrer. Die Familie weiß noch nicht so richtig, wo sie ist. Die Schlepper haben sie auf einer einsamen Bundesstraße in Niederösterreich aussteigen lassen. In der Ferne erwacht gerade ein Dorf.
Mustafa Alis Familie kommt aus der Nähe von Damaskus in Syrien. 2012 herrschte der Bürgerkrieg dort schon in voller Härte. "Es gab überall Bomben, meine Brüder haben wegen der Schüsse immer geweint." Als fast alle Nachbarhäuser zerstört sind, verkauft die Familie ihr Hab und Gut und flieht mit dem, was sie tragen kann, nach Istanbul. Dort bezahlt Alis Vater einen Schlepper, der die Familie nach Europa bringen soll. Es ist eigentlich Zufall, dass sie in Österreich landen. Die Überfahrt kostet 11.000 Euro. "Wir waren hinter einer doppelten Wand eingeschlossen. Wir mussten ganz leise sein und in Flaschen pinkeln", erzählt der junge Syrer.
Seit dem Zweiten Weltkrieg waren laut dem UN-Flüchtlingskommissariat (UNHCR) noch nie so viele Menschen auf der Flucht wie heute. Im Vorjahr verzeichnete das UNHCR 51,2 Millionen Flüchtlinge, Asylsuchende und Binnenvertriebene. 28.078 von ihnen haben in Österreich einen Asylantrag gestellt. Gut ein Viertel davon waren Syrer, die vor dem Bürgerkrieg in ihrer Heimat geflohen sind. Heuer werden sogar 70.000 Anträge erwartet, wie das Innenministerium (BMI) am Montag mitteilte, so viele wie seit dem Prager Frühling nicht mehr. An Spitzentagen werden täglich bis zu 300 Asylanträge gestellt.
Länder kommen beiQuartieren nicht nach
Angesichts der steigenden Flüchtlingszahlen in den warmen Sommermonaten wächst der Druck auf die Bundesländer, genug Quartiere für die Unterbringung zur Verfügung zu stellen. "Die Bundesländer sind bemüht, sie nehmen mehr Menschen auf als noch vor einem Jahr", sagt BMI-Sprecher Karl-Heinz Grundböck zur "Wiener Zeitung". Allerdings werde auch der Rückstau der zu betreuenden Menschen immer größer.
So groß, dass derzeit laut
Caritas-Generalsekretär Bernd Wachter rund 300 Flüchtlinge in Zelten in Salzburg und Niederösterreich untergebracht sind. Vor dem überfüllten Erstaufnahmezentrum in Traiskirchen will das BMI nun 60 Zelte für 480 Menschen aufstellen. Innenministerin Johanna Mikl-Leitner und Bundeskanzler Werner Faymann forderten am Dienstag abermals Solidarität seitens der Bundesländer ein. Die Solidarität scheitert aber derzeit vielerorts am Widerstand von Bürgermeistern und Landeshauptleuten. Von 2300 heimischen Gemeinden haben gerade einmal rund 500 überhaupt Flüchtlinge aufgenommen.
Der Bad Gasteiner Bürgermeister sorgte vor zwei Wochen für Schlagzeilen, als er die temporäre private Unterbringung von 40 Asylwerbern in einem Mitarbeiterquartier eines Skihotels verhindern wollte. Kärntens Landeshauptmann Peter Kaiser soll am Dienstag ein Vorhaben der Innenministerin, Flüchtlingszelte in Villach aufzustellen, abgedreht haben.
Wachter von der Caritas hat kein Verständnis für das politische Hin und Her. "Ich kann mich nicht erinnern, dass es jemals eine derartige Panik gab", sagt er zur "Wiener Zeitung". In einem "reichen Land wie Österreich" müsse es möglich sein, genug Quartiere zu organisieren.
Österreich steht nicht das erste Mal vor großen Flüchtlingszahlen (siehe Grafik). Während der Polenkrise 1981, damals drohte die Rote Armee ins Land einzumarschieren, flohen zigtausende Polen nach Österreich. Während des Balkankriegs in den 90er Jahren kamen zwischen 80.000 und 120.000 Menschen nach Österreich. Das Innenministerium geht von 90.000 Bosnien-Flüchtlingen aus. Damals war die Unterbringung allerdings kein Problem. Es gab keine Zeltstädte, kein überfülltes Traiskirchen, keine Hysterie und keine Plakate, die mit "Daham statt Islam!" gegen Ausländer wetterten. Warum?
Meisten Bosnier warennie Flüchtlinge
Was heute Bund und Länder vor enorme Herausforderungen stellt, schien in den 90ern weitgehend unkompliziert zu funktionieren. Einer der Gründe dafür ist, dass die meisten Bosnienkrieg-Flüchtlinge nie wirklich Flüchtlinge waren, erklärt August Gächter vom Zentrum für Soziale Innovation. Auch das Innenministerium bestätigt, dass die 90.000 Bosnier, die damals aufgenommen wurden, keinen Asylantrag stellen mussten.
Mustafa Ali und seine Familie mussten mehrere tausend Euro an Schlepper bezahlen, um nach Österreich zu kommen. Sie landeten zuerst in Traiskirchen und kamen später ins Salzburger Pinzgau in eine Flüchtlingsunterkunft. Darko M. und seine Familie kamen als Touristen nach Österreich. Sie wohnten zunächst beim Onkel. Der Vater bekam schon nach einem Monat eine Arbeitserlaubnis, dank der Hilfe der Vermieterin. Mustafa Alis Vater durfte nicht arbeiten und muss täglich einen Deutschkurs besuchen.
Das Fremdenrecht hat sich seit den 90ern verändert. Damals bekamen Menschen, die etwa aus dem Krieg am Balkan geflohen sind, automatisch ein befristetes Visum, ohne ein Asylverfahren durchlaufen zu müssen. Viele kamen außerdem bei Verwandten, Freunden oder in Pfarren unter. Heute muss jeder Flüchtling einen Asylantrag stellen und damit ein Verfahren einleiten. Damals war das Asylwesen auch weniger zentralisiert. In den 1990er Jahren gab es, anders als heute, keine Integrationsbestimmungen und keine Grundversorgung für Flüchtlinge. Sie waren auf sich selbst und das Wohlwollen von Kommunen und Nachbarn angewiesen.
Auf der anderen Seite war es viel einfacher, eine Arbeit und ein Visum zu bekommen. "Die Bosnier hat man in den Arbeitsmarkt gedrängt", erklärt Gächter. Angesichts des starken Arbeitskräftemangels und der niedrigen Arbeitslosenraten war Österreich wohl für jeden Bauarbeiter, Tellerwäscher und Facharbeiter dankbar.
Auch die Stimmung gegenüber Asylsuchenden war weit positiver als heute. Man half quasi Nachbarn in Not. "Es war etwas Unmittelbares, eine Nachbarschaftsgeschichte. Heute werden die Leute stärker als Fremde und als Bedrohungsszenario wahrgenommen", sagt der Soziologe Reinhard Kreissel zur "Wiener Zeitung".
Steigende Arbeitslosenzahlen, eine Wirtschaftskrise, die Österreich nicht loslässt, und die Tatsache, dass die Schutzsuchenden keine vertriebenen Nachbarn gleicher Hautfarbe und Religion sind, spitzt die Situation zu. Viele Bevölkerungsschichten sind verunsichert und politischen Parteien machen Kleingeld damit. Früher ging es darum, "social goodies" gerecht zu verteilen, heute stehe die Politik vor dem Problem, wie sie die "social bads" aufteilen soll, meint der Soziologe Kreissel.