Vor allem die Mittelständler zieht es weg aus der Heimat. | Wenig Zukunftsperspektive trotz Wirtschaftswachstum. | Moskau. Man könnte meinen, Russland sei derzeit ein Land, in dem es sich relativ wohlhabend und sorgenfrei leben lässt. Trotz der auch auf Russland übergeschwappten Finanzkrise wächst die Produktion; Moskau kann sich vor schicken Westautos nicht retten, die Bürger verdienen gut und geben mehr aus. Fast jeder findet einen anständig bezahlten Job. Ja, man leistet sich neuerdings sogar die teuerste Anschaffung: Kinder. Das sollte vom Blick in eine sichere Zukunft zeugen.
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Im Gegensatz zu diesem positiven Bild steht allerdings eine Welle der "stillen" Emigration. Russen, die ihr Glück in der Fremde suchen, folgen ideologischen oder politischen Beweggründen. Frust und Sehnsucht nach einem "normalen Leben" sind es, die sie aus ihrem Heimatland treiben. Besonders empfänglich für Gedanken an ein besseres Leben außerhalb Russlands ist die gut verdienende Mittelklasse, vielleicht auch nur deren untere Hälfte. Es sind Menschen, die sich den Kauf teurer Haushaltgeräte von ihren laufenden Einkünften leisten können, ohne dafür sparen zu müssen.
Vor einem Jahr noch war das ein Viertel der russischen Bevölkerung. Die steigende Inflation hat diese Zahl inzwischen reduziert. Diese Menschen fühlen sich in Russland einfach nicht mehr wohl in ihrer Haut, und sie können auch daheim ihren beruflichen Ehrgeiz nicht befriedigen. Manche fürchten sogar, in ihrer Hilflosigkeit gegenüber den Gegebenheiten der heutigen russischen Gesellschaft nach und nach dem Trunk zu verfallen. Sie stehen vor der Wahl: "emigrieren oder degenerieren". Sie machen nicht viel Aufhebens von ihrer Übersiedlung in andere Länder, sondern sich still und leise aus dem Staub.
Beamtenwillkür und Schmiergelder
Der wichtigste Grund für die Abwanderungswelle sei wohl die zunehmend aggressive Willkür der Beamten, meint der Leiter des Instituts für Globalisierungsprobleme, Michail Deljagin, in einem Interview der liberalen "Nowaja Gaseta". In seiner letzten Jahresbotschaft hatte der damalige Präsident Wladimir Putin erzählt, dass Menschen auf die andere Straßenseite gingen, wenn sie einen Polizisten herannahen sähen.
Wenn sich seither etwas geändert habe, so nicht zum Besseren, meint Deljagin. Vertreter des Staates machten für den Bürger keinen Finger krumm. Sie ließen sich nicht einmal mehr vom Normalbürger bestechen, weil sich nur Reiche Schmiergelder in der heute üblichen Preislage leisten könnten. Der Normalbürger suche deshalb einen Ort, an dem er sich nicht überflüssig fühle. Diese Menschen schielen nach Übersee oder Europa. Die häufigsten Ziele der Auswanderer sind Großbritannien, Österreich (wo 18.000 Russen leben), Spanien, Kanada, Bulgarien und sogar Neuseeland.
Im russischen Staat funktioniert nichts mehr. Auch das frustriert. Selbst für medizinische Behandlung müssen die Menschen tief in die Tasche greifen - und die ist nicht für alle gleich. Den Oberen aus dem Staatsapparat steht das Zentrale Klinische Krankenhaus, im Volksmund "Kremljowka" genannt, mit erstklassigen Ärzten zur Verfügung. Reiche lassen sich in teuren Privatkliniken behandeln. Aber auch in "kostenlosen" städtischen Krankenhäusern wird dem Chirurgen als "Dank" Geld im Kuvert zugesteckt.
"Banditen der 1990er waren nette Menschen"
Recht sei besser als Unrecht, sagte der neue Präsident Dimitri Medwedew bei seinem Amtsantritt. Eine Polizei- und Gerichtsreform ist jedoch nicht in Sicht. Zwar sind die Gefängnisse in vielen anderen Ländern nicht besser. Jemand, der nichts verbrochen hat, wird dort in der Regel aber auch nicht landen. In der russischen Heimat kann einem das hingegen auf Schritt und Tritt passieren. Oder man wird ohne viel Federlesens beim Verhör geprügelt oder "auf der Flucht" erschossen.
Von den russischen Verhältnissen ein Lied singen kann der junge Geschäftsmann Sascha. Ihm hängt ein Strafverfahren an: Er hatte eine Ausfahrt versperrt. Als er zurück kam, zückte der Blockierte eine Pistole mit Gummigeschossen und schoss ihm die Autoscheibe kaputt. Auch Sascha hatte eine Gummi-Pistole und schoss zurück. Bei der Polizei malte der Beamte ihm eine Zahl auf einen Zettel. Sascha wollte aber nicht zahlen, denn seine Waffe war ja zugelassen. Jetzt droht ihm ein Prozess.
In den schlimmen 1990er Jahren habe die russische Gesellschaft von der Hoffnung auf eine bessere Zukunft gezehrt, sagt Deljagin. Nun sei den Leuten aber klar geworden, dass sie heute in einem Staat leben, vor dessen Hintergrund "die Banditen der 1990er Jahre als nette, sentimentale und naive Menschen erschienen".
Die Russen seien heute "der gewaltsamen Lösung von Wirtschaftsproblemen" ebenso überdrüssig wie unter Josef Stalin "der gewaltsamen Lösung politischer Probleme". Langsam dämmere den Menschen die Erkenntnis, "dass ein normales Leben mit diesem Staat nicht vereinbar ist".