)
Seit einer Woche hält der Waffenstillstand in der Ostukraine weitgehend. | Doch die Gesellschaft ist gespaltener denn je. Wut wird von selbstauferlegter Stille überdeckt.
Hinweis: Der Inhalt dieser Seite wurde vor 10 Jahren in der Wiener Zeitung veröffentlicht. Hier geht's zu unseren neuen Inhalten.
Brüssel/Moskau/Kiew. Jurij holt tief Luft, es dauert einige Sekunden, bis er antwortet. "Es geht schon. Also so nach und nach", sagt er schließlich. Die letzten vier Wochen, als die Kiewer Regierung den Belagerungsring um die Rebellenhochburg Donezk, seine Heimatstadt, enger zog, war er nur mehr sporadisch in der Arbeit. Er hatte in der Zeit, in der er nicht gebraucht wurde, sich lange um Wasser angestellt und Vorräte für seine Familie besorgt. Die schlimmste Zeit - kurz vor dem möglichen Fall Donezks an die ukrainische Armee, bevor es den Aufständischen gelang, eine zweite Front südlich bei Nowoasowsk zu eröffnen - verbrachte er im Keller des Nachbarhauses auf einer alten Matratze. Jetzt ist er wieder zurück in seiner Wohnung. Genau so wie tausende weitere Donezker, die seit Beginn der Waffenruhe Freitag vor einer Woche wieder in die Stadt zurückgekehrt sind. Fast ein Drittel der Millionenstadt hatte diese wegen der Kämpfe verlassen.
In Donezk herrscht nach Wochen der Leere auf den Straßen vergleichsweise emsiges Treiben. Die Bewohner sind damit beschäftigt, die Schäden zu begutachten und suchen nach ihren Angehörigen, Spezialisten bergen Leichen in Gebieten um Donezk, die wegen der Kämpfe bisher nicht zugänglich waren, oder sprengen nicht detonierte Artillerie-Granaten, die nun massenhaft in der Stadt wie in der Region verstreut sind, sei es auf Zuggleisen oder vor Schulen. Wasser- wie Elektroingenieure arbeiten praktisch rund um die Uhr daran, die Leitungen wieder instand zu setzen. Dennoch: Es ist still geworden im Donbass in den vergangenen Tagen. Und das nicht, weil die Waffen - abgesehen von einzelnen Verstößen gegen die Waffenruhe - nun schweigen.
Vielmehr sinkt mit jedem Tag Verschnaufpause auch der Adrenalinspiegel der Bevölkerung und der an den Kämpfen Beteiligten. Sie beginnen, da sie nun nicht mehr alleine mit Überleben beschäftigt sind, im Privaten nachzudenken über das, was die vergangenen Wochen geschah, und wie sie zu diesem Punkt gelangten. Viele sind der Kämpfe müde, aber für Wut reicht die Kraft noch aus. Gab es vor Wochen durchaus noch differenzierte Antworten über die Konfliktparteien, so ist diese Zeit nun offenbar passé. Die "Junta" in Kiew, "die uns alle umbringen will", oder eben Moskau, allen voran der russische Präsident Wladimir Putin, seien schuld an der jetzigen Situation. Dazwischen gibt es nichts.
Die Menschen müssten aufpassen, nicht auf offener Straße zu streiten zu beginnen, erzählt eine Donezkerin. "Keiner tut seine Meinung öffentlich kund, alle sind nervös, aber alle schweigen. Die Menschen laufen auf der Straße, schweigen. Sie sitzen im öffentlichen Verkehr - und schweigen", sagt Ludmila, eine Pädagogin.
Die Rückkehr des Subbotnik
In den vergangenen Tagen hat sich aber auch eine kleine Gruppe gebildet, die am heutigen Samstag zu einem "Subbotnik" aufgerufen hat. Der Subbotnik (aus dem russischen Subbota - Samstag) ist ein in Sowjetrussland entstandener Begriff für einen unbezahlten Arbeitseinsatz am Samstag. Unter der Sowjetbevölkerung rief er freilich wenig Begeisterung hervor. In Donezk hingegen will man sich so gegenseitig bei Aufräumarbeiten helfen. "Die Reaktionen sind aber nicht eindeutig, das sage ich Ihnen gleich", sagt eine der Organisatorinnen, die nicht namentlich genannt werden will, denn es sei immer noch gefährlich in der Stadt. "Die Bevölkerung ist sehr verschreckt, die Menschen sehen in jedem Aufruf zur Hilfe gleich eine Falle", erklärt die Frau, "etwa dass das nur für Fernsehkameras gemacht würde." Die Menschen hätten die Vorstellung einer Hilfe ohne Gegenleistung und Hintergedanken verloren.
"Das Wichtigste ist, dass niemand die Veranstaltung zu einer Politdemonstration verunstaltet", sagt die Organisatorin. Sie würde sich freuen, wenn die Menschen, die daran beteiligt sind, weiter in Kontakt bleiben und sich gemeinsam für die Stadt einsetzen würden - ohne jegliche Ideologie.
Die Aktion ist freilich auch aufgrund verstreuter undetonierter Mörsergranaten unter Trümmern nicht ungefährlich. Man habe dies im Aufruf bedacht und nur jene geladen, "die keine Angst haben". Der Kern der Organisatorinnen hätte schon aufgehört, sich zu fürchten nach den Erlebnissen der vergangenen Wochen, die sie zwischen den Fronten der Aufständischen und der ukrainischen Armee verbracht haben. "Wir haben nur noch eine Losung: Wie es kommt, so kommt es."
Einsatzmöglichkeiten für die "Stille Hilfe", wie die Frauen sich auch nennen, gibt es nach den umfangreichen Kämpfen zur Genüge. Die ukrainische Regierung schätzt die Schäden durch den monatelangen Krieg im Osten des Landes auf bisher etwa 700 Millionen Euro. Mehr als 11.000 Gebäude seien durch die Gefechte zwischen der Armee und prorussischen Separatisten weitgehend zerstört worden, erklärte Vize-Regierungschef Wladimir Groisman am Freitag in Kiew.