Zum Hauptinhalt springen

Stille Nacht: Rekordverdächtiges und Skurriles

Von Stefan Spath

Reflexionen
Die Stille-Nacht-Kapelle in Oberndorf
© Stefan Spath

Eine Spurensuche vom ältesten Schulhaus Österreichs über das Zillertal und Frankenmuth, Michigan bis in den Asteroidengürtel.


Hinweis: Der Inhalt dieser Seite wurde vor 6 Jahren in der Wiener Zeitung veröffentlicht. Hier geht's zu unseren neuen Inhalten.

Das berühmteste Weihnachtslied der Gegenwart kommt als Notlösung in die Welt. Seine Urheber sind zwei soziale Aufsteiger, die von ihrem Geniestreich nie finanziell profitierten. Und seine Verbreitung bis in den letzten Winkel der Erde findet das Lied in einer Ära, als Radio und TV, Facebook und Twitter noch ferne Zukunft sind. Allein diese Aspekte tauchen "Stille Nacht", das am Weihnachtsabend 1818 in Oberndorf an der Salzach zum ersten Mal erklang, in eine märchenhafte Aura. Das Lied mit dem Text von Joseph Mohr (1792–1848) und der Melodie Franz Xaver Grubers (1787–1863) hält aber weitere Rekorde und Anekdoten bereit. Zum 200-Jahre-Jubiläum richtet das Land Salzburg den beiden Schöpfern eine große Hommage aus.

Arnsdorf: Zeitreise in das älteste Schulhaus Österreichs

Nirgendwo ist die Entstehungsgeschichte so präsent wie in der kleinen Ortschaft Arnsdorf im Salzburger Flachgau. Hier war Gruber als Lehrer tätig, im nahen Oberndorf besserte er als Organist sein Gehalt auf. Das 1771 eröffnete Schulgebäude ist heute die älteste Volksschule Österreichs, in der heute noch unterrichtet wird. Über eine Holztreppe geht es in das Stille-Nacht-Museum im ersten Stock. Kurz vor Weihnachten 1818 unterbreitet Hilfspfarrer Mohr seinem Freund eine Idee, wie man die Christmette in Oberndorf trotz kaputter Orgel ansprechend gestalten könnte. Er zieht einen Liedtext aus dem Ärmel, den er zwei Jahre zuvor verfasst hat, bittet Gruber um eine Melodie, die binnen weniger Stunden ihren Weg auf das Notenblatt findet. Grubers ehemalige Dienstwohnung präsentiert sich wie anno dazumal. Sogar die Krippe hat die Zeiten überdauert. Kustos Max Gurtner: "Damals hat sie der Gruber aufgestellt, heute mache ich es."

Der Zufall führt Regie

Am 24. Dezember feiert "Stille Nacht! Heilige Nacht!" seine Premiere in der Christmette. Mohr übernimmt den Tenor-Part und die Begleitung mit der Gitarre, Gruber singt den Bass. Doch schon ein Jahr später werden sich ihre Wege wieder trennen. Dass sie überhaupt zusammenkamen, ist einer der abenteuerlichsten Aspekte an der "Stille Nacht"-Saga. Gruber musste sich seine Karriere als Musiker und Lehrer gegen den Widerstand seines Vaters, eines Leinenwebers aus Hochburg im Innviertel, ertrotzen. Erst als der Elfjährige bei einem Gottesdienst einmal seinen erkrankten Lehrer an der Orgel vertrat, gab Gruber sen. seinen Segen zu einem Leben abseits des Webstuhls. Noch schlechtere Karten hatte Mohr. Er wurde als uneheliches Kind eines Deserteurs und einer Strickerin in Salzburg geboren. Doch ein Geistlicher nahm ihn unter seine Fittiche. Mohr erwies sich als talentierter Musiker, absolvierte das Gymnasium und empfing 1815 die Priesterweihe. Zwei Underdogs, zwei Förderer, zwei Mal erwies sich die Musik als Hebel zum gesellschaftlichen Aufstieg, nur für zwei Jahre kreuzten sich die Wege der beiden in Oberndorf – und heraus kam das größte "One Hit Wonder" aller Zeiten.

Erfolgsmodell Zillertaler Nationalsänger

Über den Zillertaler Orgelbauer Carl Mauracher kam "Stille Nacht" 1819 nach Tirol und ging auf Wanderschaft mit Bauernfamilien, die sich auf deutschen Weihnachtsmärkten mit dem Verkauf von Krämerwaren ein Zubrot verdienten. Die Geschwister Strasser und die Rainer-Sänger lockten mit Gesang Kundschaft an ihre Stände, doch bald schon erwies sich "Stille Nacht" als ihr wichtigstes Kapital. Das Lied öffnete ihnen die Türen zu Konzertsälen und Fürstenhöfen. Das rief Nachahmer auf den Plan – und ab den 1830er Jahren zogen ganze Scharen von "Nationalsängern" oder "Natursängern" vom Zillertal in die Welt hinaus. Die Zillertaler gehörten zu den ersten, die mit professionell aufgezogenen Konzerttourneen reüssierten.

Ludwig Rainer – Ein Popstar seiner Zeit

Eine Schlüsselfigur war Ludwig Rainer (1821–1893), der ab 1839 mit der "Rainer Family" vier Jahre durch Nordamerika und später zehn Jahre durch Russland tingelte. "Rainer war ein richtiger Popstar seiner Zeit. Er war mit bis zu 14 Personen unterwegs und führte im Stil einer Musicalrevue auf, was das ganze Jahr über im Tal passierte", erzählt Günther Klaus vom Heimatmuseum im Tiroler Fügen. Auftritte bei den Weltausstellungen in Paris (1855) und Wien (1873) sind dokumentiert, dem Zaren brachte Rainer Jodler, Tiroler Weisen und "Stille Nacht" ebenso zu Gehör wie Queen Victoria. "Ausgelitten. Ausgerungen. Viel gereist und viel gesungen", steht auf seinem Grabstein im Tiroler Achenkirch.

Von Hawaii bis Südkorea: Stille Nacht exotisch

Das Fügener Heimatmuseum beherbergt mit der größten bekannten Stille-Nacht-Schallplattensammlung noch einen weiteren Schatz. Viele der über 1000 Tonträger sind digitalisiert und per QR-Code abrufbar. Ein faszinierendes Musik-Universum tut sich auf – von Hörbeispielen aus Südkorea über Schwarzafrika und Tunesien reicht die Bandbreite der "exotischen" Cover-Versionen bis zur hawaiianischen "Stillen Nacht". Von den Großen des Business haben unter anderem Bing Crosby, Elvis Presley, Jimi Hendrix, Johnny Cash, Ella Fitzgerald und Tori Amos dem Song ihre Stimme geliehen.

Von der Wiege bis zur Bahre

Katholische und protestantische Missionare trugen ebenfalls eifrig zur Verbreitung bei. Mittlerweile haben die Stille-Nacht-Forscher Übersetzungen in über 300 Sprachen ausfindig gemacht – darunter auch auf Lateinisch und Klingonisch. Von Fidschi bis Lappland, von Gabun bis Japan stimmen Abermillionen Menschen das Lied zu Heiligabend an. Und mancherorts entwickelte "Stille Nacht" auch ein Leben außerhalb des Weihnachtskontextes. In China wiegt die Melodie im Siciliano-Rhythmus Kinder in den Schlaf. In Grönland kommt sie mitunter bei Begräbnissen zum Einsatz: "Stille Nacht" von der Wiege bis zur Bahre.

Damals: Ein Hauch Anerkennung, kein Geld

1854 ging Gruber nach einer Anfrage aus Deutschland daran, die lange Zeit irrtümlich für ein Tiroler Volkslied gehaltene Komposition wieder einzufangen. In der "Authentischen Veranlassung" beschrieb der mittlerweile als Kirchenmusiker in Hallein tätige Komponist die Umstände der Entstehung. Von F.X. Grubers kirchenmusikalischen Werken brachte es keines zu annähernd großer Bekanntheit. Erlebte Gruber noch ansatzweise mit, welch unglaubliche Reise "Stille Nacht" hingelegt hatte – er starb 1863 – war Mohr dies nicht vergönnt. Arm wie eine Kirchenmaus hatte der Vikar 1848 in Wagrain das Zeitliche gesegnet. Finanziell brachte "Stille Nacht" den beiden Schöpfern übrigens keinen Kreuzer ein. Ein Urheberrecht wie heute gab es noch nicht.

Heute: 300 Millionen Euro mit "Last Christmas"

Dass man heutzutage mit einem einzigen Weihnachts-Ohrwurm ausgesorgt haben kann, beweist "Last Christmas" (1994) des britischen Pop-Duos Wham. George Michael, dem die Songrechte gehörten, verdiente daran nach Schätzungen gut 300 Millionen Euro. Zu den Verkäufen auf Vinyl, CD und in digitaler Form kommt im Advent eine geradezu nervtötende Radiopräsenz. Jedes Mal, wenn "Last Christmas" aus dem Äther ertönt, klingelt es in den Kassen von George Michaels Erben. Der Popstar starb am 25. Dezember 2016.

In den Fußstapfen Franz Xaver Grubers

Um 1910 war "Stille Nacht" bereits allgemeines Kulturgut – und Grubers Enkel Felix (1882–1940) avancierte zu einem seiner eifrigsten Promotoren. Er publizierte zur Geschichte des Liedes, führte es zu Weihnachten am Grab seines Großvaters auf und stimmte dazu die originale Gitarre Mohrs an, die heute der größte Schatz des Halleiner Stille-Nacht-Museums ist. Nur konsequent, dass Felix Gruber in der ersten Verfilmung des Stoffes, die 1934 unter dem Titel "Das unendliche Lied" in die Kinos kam, seinen Großvater verkörperte.

Rapper DAME: Franz Xaver Grubers Ururururenkel

In die Fußstapfen Franz Xaver Grubers trat auch sein Ururururenkel Michael Zöttl. Der 28-Jährige aus Salzburg, besser bekannt als Rapper DAME, schaffte es mit seinen beiden jüngsten, im Eigenlabel produzierten Longplayern sogar an die Spitze der österreichischen Album-Charts. Von einer Hip-Hop-Version von "Stille Nacht" hält DAME nichts. "Die schönste Version ist und bleibt das Original", sagte er in einem Interview (www.damestream.at).

Ein Evergreen in den USA

Spätestens mit der ersten Einspielung auf Schallplatte durch das "Haydn Quartet" im Jahr 1905 wurde "Silent Night" zum populärsten Weihnachtslied der USA. Daran hat sich bis heute nichts geändert, wie das Magazin "Time" herausfand. Mit 733 Aufnahmen von 1978 bis 2014 ließ die Komposition Mohr-Grubers "Joy to the World" (391) und "Jingle Bells" (213) weit hinter sich. Und von den zehn meistverkauften Weihnachts-Alben in den USA kamen nur zwei ohne "Silent Night" aus: Compilations von Barbra Streisand und Céline Dion.

Seltsame Blüten …

… treibt "Stille Nacht" in der 5000-Einwohner-Ortschaft Frankenmuth im US-Bundesstaat Michigan. Dort hat Stille-Nacht-Fan Wallace Bronner (1921–2008) die Oberndorfer Stille-Nacht-Gedächtniskapelle – mit Genehmigung aus Salzburg – nachbauen lassen. Sie gehört zu Bronners "CHRISTmas Wonderland", dem nach eigenen Angaben größten Weihnachtsshop der Welt. 350 aufgeputzte Christbäume, Abertausende Deko-Artikel, angeordnet auf einer Verkaufsfläche in der Größe von zwei Fußballfeldern, verschaffen dem Wonderland zwei Millionen Besucher im Jahr. Die Kapellen-Kopie ist frei zugänglich, es ertönt, wie könnte es anders sein, ein Stille-Nacht-Medley in zahlreichen Sprachen (www.bronners.com).

So laut wie möglich: Die Toten Hosen

Wie laut darf die "Stille Nacht" erklingen? So laut wie geht, befanden die Toten Hosen. Die Düsseldorfer Punkrocker bürsteten auf ihrem 1998 erschienenen Album "Wir warten auf’s Christkind" die gängigen Weihnachtsballaden gegen den Strich und rockten das getragene "Stille Nacht" in einer Minute und 50 Sekunden herunter. "Es ist eine Platte zum Abfeiern, wenn du die Schnauze voll hast von diesem besinnlichen Weihnachten", richtete Frontmann Campino damals aus. Respektlosigkeit? Im Oberndorfer Stille-Nacht-Museum wird das locker gesehen.

Zwischen Megakommerz und Innehalten

Stille-Nacht-Tassen, -Stofftiere und -Schokoriegel, und auf das Jubiläum kann man sogar mit Stille-Nacht-Bier anstoßen. Dass der Kommerz auch hierzulande den Evergreen ausreizt, wird spätestens auf Salzburgs Adventmärkten offenkundig. Wer das Weihnachtslied ernst nimmt, geht jedoch sparsam damit um. Ein Beispiel dafür ist das Salzburger Adventsingen im Großen Festspielhaus. Nur alle zehn Jahre wird "Stille Nacht" zum Thema der Weihnachtsgeschichte – "aus Respekt vor dem Lied", wie Hans Köhl, Leiter des Adventsingens, sagt. Im Dezember 2018 ist es aber wieder soweit – die Geschichte kehrt in das Oberndorf des Jahres 1818 zurück (www.salzburgeradventsingen.at).

Mohr-Gruber kreist zwischen Mars und Jupiter

Freimut Börngen gilt als einer der erfolgreichsten Asteroidenjäger im deutschen Sprachraum. 500 dieser kosmischen Trümmerbrocken hat der Astronom entdeckt. Und seit der Salzburg-Freund im Jahr 2004 den Himmelskörper Nr. 65.675 auf den Namen "Mohr-Gruber" taufte, sind die Liedschöpfer auch in der Stillen Nacht des Weltalls verewigt. Der Asteroid erfreut sich guter Gesellschaft: Zwischen Mars und Jupiter drehen auch die Börngen-Schützlinge Haydn, Händel und Verdi ihre Runden um die Sonne.