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Stillstand einzementiert

Von Alexander Dworzak

Politik

Angela Merkel will nach dem Scheitern der Jamaika-Sondierungen als Kanzlerkandidatin in Neuwahlen gehen.


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Berlin/Wien. "Erst kommt das Land, dann kommt die Partei", schrieb Willy Brandt wenige Monate vor seinem Tod allen Kräften ins politische Stammbuch. An die Devise des SPD-Altkanzlers haben sich die Sondierungspartner CDU, CSU, FDP und Grüne nicht gehalten. Das ist inhaltlich wie habituell nachvollziehbar, so unterschiedlich sind die Positionen; nach vier Wochen der Sondierungen hat sich das waghalsige Abenteuer Jamaika-Koalition erledigt. Es ist ein Scheitern von historischer Dimension: Zum ersten Mal seit der Weimarer Republik könnte es in Deutschland zu Neuwahlen kommen, weil sich die potenziellen Partner als unfähig erwiesen haben, eine Regierung zu bilden.

Eine andere Mehrheit ist nicht in Sicht, die Sozialdemokraten weigern sich seit dem Wahldebakel im September beharrlich, eine große Koalition mit CDU/CSU zu bilden. "Wir scheuen Neuwahlen nicht", richtete SPD-Chef Martin Schulz am Montag Kanzlerin Angela Merkel und Präsident Frank-Walter Steinmeier aus. Das Staatsoberhaupt forderte alle Parteien auf, ihre Haltung zu überdenken, und kündigte Gespräche mit deren Vertretern an. Nur Stunden war die für Deutschland völlig untypische Minderheitsregierung im Gespräch, dann erklärte Merkel am Montagabend in der ARD, Neuwahlen wären "der bessere Weg" als eine Minderheitsregierung. Sie sei bereit, "weiter Verantwortung zu übernehmen".

Wer ist schuld?

Das Wohl der Bundesrepublik als bevölkerungs-, wirtschaftsstärkstes und einflussreichstes Land der EU im Sinne Brandts spielte am Montag eine marginale Rolle. Stattdessen kämpften die Parteien um die Deutungshoheit, wer woran schuld sei. Arbeiteten in den vergangenen beiden Wochen CSU und Grüne am intensivsten an ihrer Rolle als Verhinderer von Jamaika, gibt es nun mit der FDP einen neuen Buhmann. Die Liberalen hatten sich zurückgezogen, obwohl beim schwarz-grünen Zankapfel Familiennachzug für Personen mit eingeschränktem Schutzstatus endlich eine Teillösung in der Flüchtlingspolitik in Sicht war. Dem Vernehmen nach sollen die Freien Demokraten plötzlich einen restriktiven Kurs eingefordert - und dann die Gespräche verlassen haben. FDP-Quellen betonten dagegen, mehr als 200 Punkte seien noch offen gewesen.

"Gut vorbereitete Spontanität" nannte CDU-Vizechefin Julia Klöckner den Abgang der FDP. Der Grüne Robert Habeck - er regiert in Schleswig-Holstein mit Schwarz und Gelb - schimpfte gar über "Geiselhaft" durch die FDP. Deren danach öffentlich ausgegebenes Motto "Lieber nicht regieren, als falsch zu regieren" hält selbst der FDP-freundliche Innenpolitikchef der "Frankfurter Allgemeinen Zeitung" für "sicher nicht erst gestern Abend erfunden". Absetzbewegungen zeigten sich bereits am Freitag, als Parteichef Christian Lindner eigenmächtig Sonntag um 18 Uhr als Sondierungsende gestreut hatte. Laut Grünen-Geschäftsführer Michael Kellner hätten die FDP-Spitzen in der Nacht auf Montag "ihre Jacken geschnappt" und fluchtartig die Gespräche verlassen.

Tatsächlich entschied sich Parteichef Christian Lindner für eine einseitige Vorwärtsstrategie. Er brachte seine Botschaft sofort via TV und in den sozialen Medien an - nur im Beisein von Parteikollegen. Anders als bei einer derart weitreichenden Entscheidung zu erwarten wäre, stellten sich somit nicht die Spitzen der vier Parteien gemeinsam der Öffentlichkeit.

Die Angst der FDP

Der Abtritt erinnert an den Anfang der Sondierungen, als die FDP merkbar lustlos die Gespräche anging. In der Partei ist noch immer das Trauma der Regierungsbeteiligung von 2009 bis 2013 wach; unter Schwarz-Gelb spielte Merkel die FDP an die Wand, die flog daraufhin aus dem Bundestag. Die Liberalen haben zwar mit Lindner und Vize Wolfgang Kubicki glänzende Redner und Selbstvermarkter. Ihnen fehlt es aber nach vier Jahren Absenz in Berlin an Substanz bis hinunter zu den parlamentarischen Referenten; im Gegensatz zu CDU, CSU und Grünen. Zur Angst vor dem Koalitionsalltag kommt, dass Merkel als grün-affin gilt; insbesondere mit deren Chef-Sondiererin Katrin Göring-Eckardt versteht sich die Kanzlerin.

Lindner führte nun fehlende "Trendwenden" in der Bildungspolitik, bei Entlastungen, bei Flexibilisierung, der Stärkung der Marktwirtschaft und in der Einwanderungspolitik an. Bereits im Bundestagswahlkampf ließ der liberale Parteichef mit der Forderung aufhorchen, wonach Kriegsflüchtlinge möglichst rasch wieder in ihre Heimatländer zurückkehren müssten. Er zielte damit auf jene Wähler, die Merkel für deren Flüchtlingspolitik abstrafen wollten, aber nichts mit der AfD zu tun haben mochten. Kommt es tatsächlich zu Neuwahlen, könnte abermals die Flüchtlingspolitik im Vordergrund stehen und die FDP davon profitieren. Oder die Wähler strafen die Liberalen dafür ab, dass sie wieder zu den Urnen müssen.

Dieser Vorwurf könnte die SPD genausogut treffen. Noch dazu ist in den vergangenen beiden Monaten wenig zur inhaltlichen Neuausrichtung der Partei passiert. Während Martin Schulz über Kapitalismuskritik sinniert, plädiert der mächtige Hamburger Bürgermeister Olaf Scholz für einen Mitte-links-Kurs. Sollte wie kolportiert im April kommenden Jahres gewählt werden, wäre die SPD inhaltlich nicht vorbereitet. Und schon gar nicht personell: Wer soll die Genossen anführen, etwa Schulz, der mit 20,5 Prozent das größte Debakel der SPD in der Geschichte der Bundesrepublik zu verantworten hat?

Angeschlagen ist auch Merkel selbst. Der Kanzlerin gelang es als Verhandlungsführerin nicht, eine Einigung zu erzwingen. Ihr haben schlicht die Druckmittel gefehlt. Das spricht nicht für ihr Verhandlungsgeschick. FDP-Politiker Volker Wissing sagte gar im Deutschlandfunk, Merkel habe "chaotische Sondierungsverhandlungen organisiert. Sie hat die Lage völlig falsch eingeschätzt." Bevor sich eine Nachfolgediskussion entwickeln kann, hat die oft zaudernde Merkel am Montag blitzschnell reagiert. Ein Ende ihrer Ära an der Spitze der CDU ist somit - noch - nicht in Sicht. Als zu schwach gilt - abermals noch - Jens Spahn vom rechten Parteiflügel. Bei den Merkel-treuen hätte wohl Ursula von der Leyen gerne gewollt, als Verteidigungsministerin hat sie aber mehrfach unglücklich agiert. Souverän sind hingegen die Auftritte von Saarlands Ministerpräsidentin Annegret Kramp-Karrenbauer. Doch eine Nachfolgediskussion würde die CDU in Flügelkämpfe stürzen, mit denen erst recht keine Wahlen zu gewinnen sind.

20 Prozent außen vor

Noch viel schlimmer für die Union: Mit wem soll die derzeit einzige Großpartei nach einer allfälligen Neuwahl regieren? In Hessen amtiert Schwarz-Grün geräuschlos trotz eines sehr konservativen CDU-Landesverbandes. Zwischen CSU und Grünen tun sich aber noch immer Gräben auf. Diese müssten unter dem wahrscheinlichen neuen Ministerpräsidenten Markus Söder zugeschüttet werden. Historisch und inhaltlich bestehen zur FDP die engsten Bindungen. Nun aber hat Merkel mit den Liberalen nach den schlechten Regierungszeiten auch das Sondierungsdesaster erlebt. Eine Zusammenarbeit mit Linkspartei und AfD schließt die Union von Vorhinein aus. Dabei handelt es sich um ein Fünftel aller Abgeordneten.

Gleichzeitig ist der Bundestag zersplittert wie nie. Sieben Parteien in sechs Fraktionen sind derzeit im Parlament vertreten. Laut Emnid-Umfrage würden die Deutschen heute kaum anders als im September wählen: CDU/CSU liegen weit vorne, mit 31 Prozent aber zehn Prozentpunkte hinter dem Ergebnis 2013. Die SPD ist weit vom Status einer Volkspartei entfernt, grundelt um 20 Prozent. Dahinter rangieren knapp über oder unter zehn Prozent AfD, Grüne, FDP und Linke. Kämen alle sieben Parteien wieder in den Bundestag, stünde der Wahlsieger wahrscheinlich vor demselben Dilemma bei der Regierungsbildung wie nun Merkel.

Der Weg zu Neuwahlen<p>Den verfassungsrechtlichen Rahmen für Neuwahlen - aber auch eine Minderheitsregierung - beschreibt Artikel 63 des deutschen Grundgesetzes. Aus dem vierten Absatz ergibt sich, dass Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier dabei eine entscheidende Rolle zukommen würde:

(1) Der Bundeskanzler wird auf Vorschlag des Bundespräsidenten vom Bundestage ohne Aussprache gewählt.

(2) Gewählt ist, wer die Stimmen der Mehrheit der Mitglieder des Bundestages auf sich vereinigt. Der Gewählte ist vom Bundespräsidenten zu ernennen.

(3) Wird der Vorgeschlagene nicht gewählt, so kann der Bundestag binnen vierzehn Tagen nach dem Wahlgange mit mehr als der Hälfte seiner Mitglieder einen Bundeskanzler wählen.

(4) Kommt eine Wahl innerhalb dieser Frist nicht zustande, so findet unverzüglich ein neuer Wahlgang statt, in dem gewählt ist, wer die meisten Stimmen erhält. Vereinigt der Gewählte die Stimmen der Mehrheit der Mitglieder des Bundestages auf sich, so muss der Bundespräsident ihn binnen sieben Tagen nach der Wahl ernennen. Erreicht der Gewählte diese Mehrheit nicht, hat der Präsident binnen sieben Tagen entweder ihn zu ernennen oder den Bundestag aufzulösen.

Neuwahlen gab es in der Geschichte der Bundesrepublik zweimal. Da das Parlament sich anders als in vielen Staaten nicht selbst auflösen kann, wurde der Weg über Artikel 68 gegangen und war umstritten. Sowohl Kanzler Helmut Kohl (CDU) 1982 als auch Gerhard Schröder (SPD) im Jahr 2005 wählten den Weg über ein Misstrauensvotum des Bundestages, das sie selbst provoziert hatten. Das Parlament verweigerte jeweils wie gewünscht das Vertrauen, sodass der Bundespräsident es auflöste. Binnen 60 Tagen muss dann neu gewählt werden.

Dieser Weg ist Merkel jedoch versperrt, da der aktuelle Bundestag ihr bisher noch gar nicht das Vertrauen ausgesprochen hat und es also auch nicht entziehen kann.