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Stimmen aus der Parallelwelt

Von Nikolaus Halmer

Reflexionen

Der indische Historiker Ranajit Guha gilt als Begründer der "Subaltern Studies". Als Kritiker der kolonialistisch-eurozentristischen Geschichtsschreibung erforscht er das Leben der "Subalternen" des Subkontinents.


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"Das ganze Land erbebt / Vom Schmerz all jener / die gepeinigt von den Grundherrn, in Not und Elend leben / Kommt, greift euch Äxte, Pfeil und Bogen / Lieber den Tod erleiden als so weiter leben!" Dieses Lied findet sich im Roman "Aufstand im Mundaland" der indischen Autorin Mahasweta Devi, in dem sie den Aufstand der Mundas, die zur Urbevölkerung Indiens zählen, gegen die britische Kolonialherrschaft beschreibt.

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Ranajit Guha, der am 23. Mai 90 Jahr alt wird, mit seiner Ehefrau Mechthild, 2008.
© Foto: Nonica Datta

Diese literarische Schilderung einer Rebellion skizziert den Grundgedanken einer Gruppe von indischen Historikern, die ihre Arbeiten unter dem Sammelbegriff Subaltern Studies veröffentlichte. Ihre Intention bestand darin, eine Geschichte derjenigen zu schreiben, von denen in offiziellen Dokumenten zwar die Rede ist, aber deren eigene Stimme durch den Filter der dominanten Gruppen verzerrt wird. Ranajit Guha, einer der international bedeutendsten Historiker der Gegenwart und Begründer der "Subaltern Studies", formulierte dies folgendermaßen: "Die Stimme, lange unbeachtet von denen, die in der zugemauerten Stadt institutioneller Politik und akademischer Wissenschaft lebten, schallte heraus aus den Tiefen einer autonomen Parallelwelt".

Nicht-elitäre Sichtweise

Geboren wurde Ranajit Guha am 23. Mai 1923 auf einem Landgut im heutigen Bangladesh. Er kam also noch während der englischen Kolonialherrschaft zur Welt, was zur Folge hatte, dass sein offiziell eingetragener Geburtstag der 1. 3. 1923 ist. Er studierte Geschichtswissenschaft an der University of Calcutta, wo er 1946 promovierte. Bereits 1940 wurde er Mitglied der Kommunistischen Partei Indiens, die er 1956 aus Protest gegen den Einmarsch der Sowjetunion in Ungarn verließ.

Nach dem Abschluss seiner Studien lehrte Guha hauptsächlich an den Universitäten von Manchester, an der University of Sussex und an der Australian National University. 2001 nahm er eine Gastprofessur am Institut für Wirtschafts- und Sozialgeschichte in Wien an, wo er nunmehr mit seiner österreichischen Ehefrau sehr zurückgezogen lebt.

Die Subaltern Studies, die untrennbar mit Guha verbunden sind, begründete er mit einer Gruppe von Historikern in den 1970er Jahren. Besonders wichtig war für ihn - nach seinem Austritt aus der Kommunistischen Partei Indiens - die Unabhängigkeit der Subaltern Studies Group. Es existierten keine vorgegebenen Richtlinien, kein Dogma, das man befolgen musste. "Es gab auch keinen Propheten" - so Guha im Gespräch mit dem Autor -, "der die Lehren der Gruppe verkündete; auch kein Politbüro, das die wissenschaftliche Arbeit überwachte. Dank dieser Freiheit war es uns möglich, kritisch die koloniale Geschichte Indiens zu analysieren."

Die Mitglieder der Subaltern Studies suchten nach einer nicht-elitären Geschichtsschreibung, die sich im Falle Indiens sowohl gegen kolonialistische als auch nationalistische Historiker wandte, weil diese nach Ansicht Guhas eine elitäre Sichtweise vertraten, die die Subalternen eben nicht als eigenständige Subjekte anerkannte, die ihre eigene Lebensform gestalteten. Dagegen betonte Guha, dass es im kolonialen Indien eine autonome Bewegung der indigenen Bevölkerung gegeben habe, für welche die Baueraufstände das beste Beispiel seien. Diese These entfaltete er in seiner umfangreichen und detaillierten Studie "Elementary Aspects of Peasant Insurgency in Colonial India", die man mit "Wesentliche Aspekte der Bauernaufstände im kolonialen Indien" übersetzen kann. Sie erschien 1983 und gilt heute als Standardwerk.

In diesem Buch wandte sich Guha auch gegen marxistische Interpretationen, die behaupteten, dass diese Aufstände nicht politisch wären, weil es kein Klassenbewusstsein gegeben hätte. Ein prominentes Beispiel dafür war der englische Historiker Eric Hobsbawm, der in seinem Buch "Die Banditen. Räuber als Sozialrebellen" Outlaws wie etwa Robin Hood mit Subalternen gleichsetzte und sie als subversive Kämpfer gegen die herrschende Ordnung bezeichnete, ihnen aber politisches Bewusstsein absprach. "Sie sind präpolitische Menschen", schrieb Hobsbawm, "die gerade erst dabei sind, eine ihnen gemäße Sprache zu finden, in der sie das, was sie bewegt, ausdrücken können."

Guha widersprach Hobsbawm und berief sich auf die Arbeiten des undogmatisch-marxistischen Theoretikers Antonio Gramsci, (1891-1937). Gramsci hatte die ausgebeuteten Arbeiter und die marginalisierten Bauern Süditaliens als Subalterne bezeichnete. Er ging von der Annahme aus, dass diese Subalternen durch die herrschende Klasse gehindert würden, ihre Interessen zu vertreten. Gramsci empfahl den Subalternen, sich politisch und öffentlich zu artikulieren, um die politische und kulturelle Hegemonie der Herrschenden zu durchbrechen.

Guha nahm diesen Hinweis auf und stellte in seinen Analysen der Bauernaufstände in Indien fest, das die Subalternen Gramcis Aufforderung bereits realisiert hatten. Bei ihnen fand sich ein politisches Bewusstsein, das sich in gewalttätigen Aktionen gegen die Kolonisatoren äußerte. Ihre Vorgangsweise ähnelte der Taktik von Partisanen; ihren Aktionen lag durchaus ein politisches Kalkül zu Grunde, wie Guha in einer Analyse von rund hundert Bauernaufständen des 19. Jahrhunderts aufzeigte.

Die Codes der Rebellen

Das Kalkül bestand darin, dass die Bauern bestimmte Kleider-, Sprach- und Verhaltenscodes benutzten, die sich deutlich von den Codes der herrschenden Klasse unterschieden. Hier bezog sich Guha auf die Bedeutung der Semiotik, die ihm, wie er im Gespräch mit dem Autor bekannte, der französische Kulturtheoretiker Roland Barthes (1915-1980) erschloss. Barthes verstand die Semiotik - die Lehre von den Zeichen - als ideologiekritisches Mittel, "um eine subtile Analyse der Sinnprozesse der Bourgeoisie" vorzunehmen.

Indem Guha diesen Semiotikbegriff aufnahm, konnte er zeigen, dass die in seinen Analysen beschriebene Auseinandersetzung um die semiotische Oberhoheit der Beginn der politischen Rebellion der Subalternen gegen die verhasste Oberschicht war. Diese Rebellion spielte sich in dramatischer Form ab: In den Aufständen wurde nicht nur das Eigentum der Kolonisatoren zerstört; die Revolte richtete sich auch gegen alle Symbole der Kolonialmacht - ähnlich wie bei den Bauernaufständen in Deutschland im 16. Jahrhundert, in denen Kirchen und Schlösser zerstört wurden.

In weiteren Kapiteln des Buchs interessierte sich Guha dafür, wie diese Aufstände in den offiziellen Archiven der herrschenden Geschichtswissenschaft dargestellt wurden: Auch diese Dokumentationen folgten der Sichtweise der Herrschenden. Die Rebellionen wurden diffamiert, mit Anarchie und Willkür gleichgesetzt; es fanden sich keine Dokumente der Subalternen. Der Wertekanon der Subalternen wurde unterschlagen; sie wurden ihrer Sprache beraubt.

Diese These nahm dann die indische Literaturwissenschafterin Gayatri Chakravorty Spivak, die mit Guha eng zusammenarbeitete, in ihrem viel diskutierten Aufsatz "Können die Subalternen sprechen?" auf und entwickelte sie weiter. Mit dem provokanten Titel meinte Spivak nicht, dass die Subalternen zu passiv oder gar unfähig wären, über ihre Anliegen zu sprechen. Vielm ehr schalten sich häufig Intellektuelle als Zwischeninstanz ein, die im Namen der Betroffenen sprechen. Durch diese Vermittlung geht aber die originäre Erfahrung der Subalternen verloren; ihre Stimmen werden nicht mehr gehört, sondern von den Intellektuellen aufgenommen und interpretiert.

Im Jahr 1988 zog sich Guha aus dem Herausgeberkollektiv der Subaltern Studies zurück. Im selben Jahr erschien eine Auswahl der Aufsätze, mit einer Einleitung des palästinensischen Literatur- und Kulturtheoretikers Edward Said. Der Band machte international Furore; er wird vielfach als eines der Gründungsdokumente der postkolonialistischen Theorie angesehen, die mit Namen wie Homi Bhabha, Gayatri Chakravorty Spivak und Dipesh Chakrabarty verbunden sind. Ihr wesentliches Anliegen besteht darin, die symbolischen Aspekte des Kolonialismus anzusprechen.

Normativer Diskurs

Es werden nicht nur die Ausbeutung der indigenen Völker, die Genozide, die Sklaverei und die gering bezahlte Arbeitskraft als Vermächtnis des Kolonialismus thematisiert, sondern auch die epistemische Gewalt, das heißt jene Gewalt, die vom wissenschaftlichen Diskurs ausging. Wissenschaften wie die Ethnologie oder die Geschichtswissenschaften konstruierten einen einseitigen Monolog, den sie als normative Macht installierten, der heute von den Theoretikern des Postkolonialismus als "Eurozentrismus" bezeichnet wird.

Dagegen setzt Dipesh Chakrabarty, der ebenfalls ein enger Mitarbeiter von Guha war, das Projekt "Europa provinzialisieren"; es bedeutet, einzusehen, dass die Geschichte des Okzidents nicht, wie lange geschehen, mit einer Universalgeschichte gleichgesetzt werden kann. Verabschiedet wird somit das Konzept einer westlich-abendländischen Leitkultur, wie sie von Philosophen seit Platon über René Descartes bis zu Martin Heidegger vertreten wurde, um die Möglichkeit eines neuen Humanismus zu schaffen, der alle Weltkulturen mit einbezieht.

Guhas erstes Buch, "A Rule of Property for Bengal", wie auch seine späteren Werke "Dominance Without Hegemony" (1966) und "The History At the Limit of World-History" (2002) befassen sich immer wieder mit Methodik und Philosophie der Geschichtswissenschaft.

Ranajit Guha selbst hat sich in den letzten Jahren wieder der indischen, genauer der bengalischen Kultur zugewandt und mittlerweile sechs Bücher in seiner Sprache veröffentlicht. Er habe die bengalische Sprache immer geschätzt, bekennt Guha, speziell den Schriftsteller Rabindranath Tagore (1913 Nobelpreis für Literatur), nicht nur wegen seiner poetischen Sprache, sondern auch wegen seiner Weltsicht, die er in vielen Punkten teilen könne.

"Es ist die Persönlichkeit des Menschen, die sich ihrer unerschöpflichen Fülle bewusst ist", heißt es bei Tagore, "dass sie mehr ist als sie selbst, mehr als von ihr sichtbar und erkennbar ist."

Nikolaus Halmer, geboren 1958, Studium der Philosophie, Romanistik, Theaterwissenschaft, ist Mitarbeiter der Wissenschaftsredaktion des ORF; Schwerpunkte: Philosophie, Kulturwissenschaften.