Fremdzuschreibung macht viele zu Muslimen, die sich nicht als solche sehen.
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Wien. Wer ist ein Muslim? Einer, der fünf Mal am Tag betet? Eine, die das Kopftuch trägt. Eine, die regelmäßig in die Moschee geht? Einer, der auf den Namen Mohammed hört? Oder einer, dessen Eltern ihm den Namen Mohammed gegeben haben?
Laut Schätzungen leben rund 500.000 Muslime in Österreich. Über den Grad ihrer Religiosität ist kaum etwas bekannt. "Ich bin Muslim, aber ich besuche auch in Klagenfurt den Kirchtag, wenn ich frei habe." "Wenn jetzt jemand kommt und sagt, du musst ein Kopftuch tragen oder dir einen Bart wachsen lassen, dann sag ich Auf Wiedersehen, du wirst mir nicht sagen, was ich tun soll." "Ich bete nicht und wenn ich dann in die Moschee gehe, dann würde ich mich irgendwie schämen, weil alle bestimmt wissen, dass ich nicht bete und dann hingehe und so auf gläubig tue."
Das sind nur einige Antworten der 70 Muslime in der empirischen Untersuchung des Instituts für Islamische Studien der Universität Wien, deren Zwischenbericht nun vorliegt. In ihrem Forschungsprojekt "Muslimische Alltagspraxis in Österreich" haben die Wissenschafter 36 Männer und 34 Frauen in Wien, Niederösterreich, Kärnten und Tirol zu ihrer religiösen Alltagspraxis befragt. Ziel des Projekts ist es, religiöse Praktiken von Muslimen jenseits islamischer Organisationen und Einrichtungen zu untersuchen. Nur ein Bruchteil der heimischen Muslime ist in islamischen Einrichtungen aktiv. In Deutschland haben Untersuchungen ergeben, dass lediglich 20 Prozent der Muslime in Vereinen organisiert sind. Dieser Wert soll auch für Österreich zutreffen, meinen Experten.
Was den täglichen Umgang mit Religion betrifft, konnten die Forscher des Instituts für Islamische Studien rund um den Religionspädagogen Ednan Aslan fünf Typen religiöser Alltagspraktiken feststellen: (1) Distanzierung und Abwendung von Religion, (2) ein säkularisierter Umgang mit Religion, (3) religiöse Emanzipation, (4) ein pragmatischer Umgang mit Religion sowie (5) der Rückzug in die Religion.
"Ich bin eine stinknormale Muslimin wie 80 Prozent aller Muslime, glaub ich. [...] Aber am Ende des Tages bin ich Muslimin, weil meine Eltern Moslems sind, und dann bist du es ja automatisch und mehr ist es auch nicht, ich bin natürlich in dieser Kultur aufgewachsen - klar, aber bei vielen Sachen wüsste ich nicht einmal, ob das einen religiösen Hintergrund hat oder ob das eher traditionell ist. So, es ist genauso wenn man Ostern und Weihnachten feiert und das ist es aber! [...] Aber ich lebe diese Religion jetzt nicht aus", zitierten die Forscher eine Frau, der sie einen "säkularisierten Umgang mit der Religion" zuschreiben. Welche Prozentsätze der heimischen Muslime die fünf kategorisierten Typen zuzuordnen sind, wird erst die quantitative Erhebung der Studie ergeben, die für Ende des Jahres 2014 geplant ist.
Zwang zum Bekenntnis
Zwei Phänomene sind dem Politikwissenschafter und Studienautor Jonas Kolb bisher aufgefallen. Einerseits tendieren die Befragten in urbanen Räumen stärker zu extremen Positionen - also vollkommen Abwendung von der Religion sowie Rückzug in die Religion - anderseits konnte er beobachten, dass vor allem junge Muslime in ihren Biografien von nicht-muslimischen Österreichern kaum abweichen. So spielt Religion bei vielen in ihrer Kindheit eine Rolle, während sie in der Jugend eher vernachlässigt wird. Erst zum Zeitpunkt der Familiengründung wendet sich ein Gros wieder stärker dem Islam zu.
Dass der Islam als Feindbild in der österreichischen Mehrheitsgesellschaft gesehen wird, habe sich in jedem Interview widergespiegelt, erzählt Kolb. Obwohl viele Befragte ihre Religion aktiv nicht ausüben würden, fühlen sie sich durch die Fremdzuschreibung und "die mediale Wahrnehmung zu diesem religiösen Bekenntnis gezwungen", sagt Kolb.