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Premierministerin Theresa May kämpft in London um Geschlossenheit in ihrem Kabinett.
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London. Zu einer "Kolonie" droht das Vereinigte Königreich zu verkommen. Die "weiße Fahne" hat Premierministerin Theresa May gehisst. Der "Brexit-Traum" liegt "im Sterben" Er wird systematisch "erstickt". Mit diesen Worten hat der britische Außenminister der letzten zwei Jahre, Boris Johnson, jetzt seinen Rücktritt aus Mays Regierung begründet. Boris spielt, weil er sich seinen Traum bewahren will, nicht mehr mit.
Für Johnson ist May schlicht zu weit gegangen, als sie das Kabinett vorigen Freitag auf eine "weiche Landung" beim Brexit einschwor. Gegen einen solchen Kurs will der Chef-Brexiteer nun außerhalb der Regierung Front machen. Zum einen, weil er kalkuliert, dass er den Kampf um einen harten Brexit im Kabinett verloren hat. Zum anderen aber auch, weil er glaubt, dass er sich für den Fall eines Regierungssturzes in den nächsten Wochen die Rolle des allseits sichtbaren Rebellen-Führers erhalten muss.
Zeit genug hat er sich mit seinem Entschluss ja gelassen. Am Freitag in Chequers prostete er May noch munter zu. Als aber Brexit-Minister David Davis nach zwei Tagen reiflicher Überlegung seinen Posten verließ und die Brexit-Hardliner der Partei den Garanten ihrer Brexit-Zuversicht abtreten sahen, fühlte sich auch Johnson gezwungen auszusteigen. Mittlerweile gilt er den Wettbüros schon wieder als Favorit für die May-Nachfolge bei der Tory-Basis. Viele seiner Landsleute haben allerdings kaum mehr Respekt vor ihm.
Regierungschefin May, von den beiden Rücktritten und der Aufregung zu Wochenbeginn gehörig erschüttert, müht sich unterdessen, ihre Regierung wieder zu stabilisieren. Weitere Abgänge, die sie befürchtete, blieben ihr fürs Erste erspart. Auch die Brexiteer-Garde der Fraktion hält sich vorläufig zurück. Für die meisten derer, die "Verrat" wittern, ist der rechte Zeitpunkt für eine Rebellion noch nicht gekommen. Aber an der Tory-Basis brodelt es. Der Aufstand ist nur vertagt.
Plan mit offenen Fragen
Denn für viele, die noch immer dem Traum radikaler Trennung von Europa anhängen, ist Mays neuer Plan, der auf Kompromisse mit der EU zielt, kein "echter Austritt" mehr. Mit dem Ausscheiden zweier Brexit-Schwergewichte nimmt sich das Kabinett nun zweifellos nüchterner und pragmatischer aus als noch vor wenigen Tagen. Selbst der frühere Brexit-Hitzeblitz Michael Gove appelliert neuerdings an jedermann, "realistisch" zu sein.
Tatsächlich beginnt sich, was seit Monaten zu erwarten stand, der Weg der Realisten und der Träumer beim Brexit zu scheiden. Unter dem Druck wirtschaftlicher Realitäten und angesichts der knappen Frist bis zum Austritt stellen sich May und der Großteil ihrer Minister auf weitere Kompromisse mit Brüssel ein. Was das Parlament betrifft, hat sich schon seit einiger Zeit abgezeichnet, dass ein harter Brexit nicht durchzuzwingen wäre. Das wissen alle Abgeordneten. Das weiß auch May.
Der Plan, den May nun von ihrem Kabinett in Chequers hat absegnen lassen, lässt dabei freilich viele Fragen offen. Während Brexiteers vom Schlage Johnsons ihn boykottieren, verwirft ihn auch die Opposition. "Impraktikabel" hat ihn Labour genannt. Regelungen für das Finanzwesen, von dem London abhängt, fehlen bislang. Die "irische Frage" ist - noch - nicht gelöst.
In der Europäischen Union werden Mays Vorstellungen in wichtigen Teilen sowieso auf Ablehnung stoßen. Allein schon freier Güterverkehr ohne Personenfreizügigkeit wird für Brüssel nicht akzeptabel sein.
Im Grunde bleiben May, selbst wenn ihr die EU entgegenkommt, nur zwei Alternativen. Entweder sie baut Brexit-Erwartungen im eigenen Land noch weiter ab. Das mag mehr sein, als ihre Partei verkraften kann. Oder sie riskiert, einen Brexit-Vertrag ins Parlament zu bringen, den die Parlamentarier niederstimmen. Darauf lauern sowohl Labour-Mitglieder, die sich davon Neuwahlen versprechen, wie Brexit-Hardliner in den Reihen der Tories, die noch immer hoffen, dass dann im Chaos gar kein Deal mit der EU zustande käme. So oder so bleibt Mays Lage prekär.
Ungewiss bleibt aber auch der Ausgang des Brexit-Dramas - bei allem neuen Realismus, der sich jetzt abzeichnet in Downing Street. Brexit-Gegner bauen immer mehr darauf, dass es noch zu einem Kollaps des ganzen Projekts und zu einem zweiten Referendum kommt.
Bezeichnend ist ja schon, dass Boris Johnson den großen "Brexit-Traum" durch Mays Manöver in diesem Sommer sterben sieht. Wenn nicht eintrifft, was er seinen Landsleuten einst vorträumte, will er wenigstens nicht schuld daran sein.
Am Dienstag kündigten zwei weitere Politiker ihren Rücktritt an: die Vize-Vorsitzenden der konservativen Partei, Ben Bradley und Maria Caulfield.