Vor dem Verfassungsreferendum fühlen sich viele Bürger in Rom als Spielball fremder Interessen.
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Rom. Die Börsen sind nervös. Regierungen in ganz Europa halten den Atem an. Dass Italien nach dem Verfassungsreferendum am Sonntag wichtige, vielleicht sogar entscheidende Tage bevorstehen, davon haben auch die neun älteren Herren gehört, die sich an diesem Wintermorgen am Rande einer stark befahrenen Straße im römischen Viertel Monteverde um einen roten Plastiktisch versammelt haben.
Zwischen Smog und Sonnenschein haben sie sich wie fast jeden Tag zum Kartenspielen getroffen. Wirft man das Wort "Referendum" in die Runde, ist ein allgemeines Murren zu vernehmen. "Hat doch keinen Sinn", murmelt einer. Ein anderer Senior mit Schiebermütze sagt: "Ganz ehrlich, uns ist die Sache scheißegal!" Seine Mitspieler bestätigen die kompromisslose Haltung mit einem Kopfnicken. Keiner von ihnen wird sich am Sonntag an "der Sache" beteiligen. Kein Zweifel, es gibt wichtigere Dinge im Leben als das Verfassungsreferendum.
Verschwörungstheorien fallen auf fruchtbaren Boden
Und doch steht viel auf dem Spiel für Italien. Geht die Reform durch, würde das komplizierte parlamentarische System in Italien vereinfacht. Nur noch eine der beiden Parlamentskammern müsste künftig der Regierung das Vertrauen aussprechen. Gesetze würden rascher verabschiedet. Setzten sich die Gegner durch, könnte die Regierung zurücktreten - mit unwägbaren Folgen für die politische und wirtschaftliche Stabilität des Landes.
Die Haltung der römischen Kartenbrüder ist beispielhaft. Denn das Gefühl, nur ein unbedeutender Spielball der Interessen zu sein, ist weit verbreitet im Land. Vielen fällt die Orientierung vor der Abstimmung am Sonntag schwer. Geht es wirklich nur um eine Änderung der Verfassung oder handelt es sich um ein großes Spiel, in dem der kleine Mann in Wahrheit nur ein Instrument für ganz andere Zwecke ist? Ministerpräsident Matteo Renzi hat die Abstimmung auch zum Votum über seine Regierung gemacht. Seine Gegner lagen in den letzten Umfragen vorne.
"Hoffentlich!", sagt Elvira, die sich in einem römischen Friseursalon gerade eine Haarmaske anrühren lässt. "Renzi geht mir so was von auf die Nerven!" Voller Wut kündigt die energische Signora ihr Nein zur Reform an. Das Szenario, vor dem sich vor allem im Ausland viele Menschen sorgen - nämlich, dass Renzis Rücktritt Neuwahlen zur Folge hat, bei denen der Komiker Beppe Grillo und seine 5-Sterne-Bewegung an die Macht gespült werden - genau das ist Elviras Hoffnung. Sorgen um so abstrakte Fragen wie Stabilität oder die Wirkung auf die angeschlagenen italienischen Banken beschäftigen sie nicht. Die Welt ist zu komplex, um die Folgen bis ins letzte Detail vorauszusehen.
Als Renzi vor zweieinhalb Jahren ins Amt kam, gab er sich als "Verschrotter" der alten Eliten. Jetzt, wo ihn viele selbst zum Establishment zählen, stellt er die Verfassungsreform als überfälligen Wandel, als Angriff auf den Stillstand dar. "So eine Chance bietet sich erst wieder in 20 Jahren", dröhnt der Premier in TV-Interviews. Seine Gegner behaupten das Gegenteil. Die Regierung sei die Elite, die immer mehr Macht anhäufen wolle. Renzi plane, sich zum starken Mann aufzuschwingen. Es bedarf eines guten Orientierungssinnes in diesen Tagen in Italien.
Der Komiker Beppe Grillo, Anführer der oppositionellen 5-Sterne-Bewegung, die in Umfragen mit Renzis Partito Democratico (PD) nahezu gleichauf liegt, beschimpfte den Premier als "Serienkiller" und "angeschossene Sau". Die Italiener sollten bitte aus dem Bauch heraus wählen. Marco Travaglio, ein von vielen für seine Unabhängigkeit angesehener Journalist, behauptete, Regierungen wie die in Berlin sowie die internationale Finanzelite seien für die Verfassungsreform, weil sie Italien "kolonialisieren", also nach eigenem Gutdünken lenken wollten. Verschwörungstheorien fallen auf fruchtbaren Boden in einem Land, das den Glauben an sich selbst verloren hat.
In den Talkshows dieser Tage taucht Silvio Berlusconi auf, als sei er nie weg gewesen. Der vierfache Ex-Premier wirbt für ein Nein zur Reform, obwohl er sie ursprünglich mitinitiiert hatte. Auch Ex-Premier Mario Monti kündigte sein Nein an, obwohl er bereits als Senator bereits für die Verfassungsänderung gestimmt hatte. Ihm behagten die Wahlgeschenke der Regierung Renzi nicht, so seine Begründung. Politisches Kalkül steht im Vordergrund - nicht die Argumente für oder gegen die Reform.
Die verlorene Generation:kein Job, wenig Zukunft
Der 29-jährige Gregorio, der im Ausgehviertel Trastevere in der Sonne sitzt, denkt über den Wahlsonntag hinaus. Er werde mit Ja stimmen, sagt der junge Wirtschaftswissenschafter überzeugt: "Wenn die Reform nicht durchkommt, tritt die Regierung Renzi ab." Das sei nicht gut für Italien, weil Renzi das Land wirklich verändern wolle. Gregorio hat in London studiert, im Moment schlägt er sich mit Aushilfsjobs durch. Leute wie er zählen zur sogenannten verlorenen Generation in Italien. Kein Job, wenig Zukunft, aber ein kleines Flämmchen Hoffnung darauf, dass sich die Dinge doch noch zum Guten wenden.
Gregorio scheint einer der Optimistischeren zu sein. Am Sonntag besteht die Chance, das Schicksal Italiens mitzubestimmen. Eigentlich ein großer Tag, sollte man meinen. Als man ihn fragt, ob er sich ernst genommen fühlt als Staatsbürger, winkt er nur laut lachend ab. "Nein", sagt Gregorio. Diesen Eindruck habe er nun wirklich nicht.