Nach dem Maidan gingen viele junge Reformer in die ukrainische Politik. Eine Bilanz zum dritten Jahrestag der blutigen Eskalation der Proteste.
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Kiew. Im Winter vor drei Jahren nahm Dmytro Schymkiw Urlaub. Nicht etwa, um auf einer Insel Wärme zu tanken oder in den Karpaten Ski zu fahren. Die Polizei hatte gerade versucht, das Protestlager im Zentrum der ukrainischen Hauptstadt zu räumen. Folglich ging Schymkiw auf den Maidan, um Schnee zu schaufeln und Barrikaden zu bauen.
Als Geschäftsführer von Microsoft Ukraine war Schymkiw damals einer der erfolgreichsten Manager des Landes. Doch in seinem alten Job ist er nie zurückgekehrt. Seit 2014 ist der 42-Jährige Vize-Leiter der Präsidialadministration und berät Petro Poroschenko bei den Reformen. "Wie in die Steinzeit zurückversetzt" hätte er sich an seinem ersten Tag im Amt gefühlt, erinnert er sich heute. Nur die wenigsten der Mitarbeiter hätten damals E-Mails benutzt. Bürokratie, wie aus dem letzten Jahrhundert.
Wie zum Beweis stehen noch sechs gelbe Telefone mit Wählscheiben neben seinem Schreibtisch. "Es war so, als müsstest du zugleich fliegen und das Flugzeug bauen", lacht Schymkiw. Der Ukrainer versprüht immer noch den Optimismus des Managers. 103 Seiten dick ist der frisch gedruckte Report über die Reformen im letzten Jahr. Schymkiw zählt auf: das elektronische Beschaffungssystem "ProZorro". Die neue Polizei. Das neue Anti-Korruptionsbüro. Die elektronischen Deklarationen der Beamten. "Die letzten drei Jahre waren nicht umsonst", sagt er.
Reformen haben auch Schattenseiten
So wurden seit dem Maidan tatsächlich viele Reformen umgesetzt. Auch das EU-Assoziierungsabkommen - das im Winter 2013/14 Anstoß für die Proteste war - ist inzwischen in Kraft; wenngleich provisorisch, da die Niederlande zuletzt in einem Referendum gegen die Ratifizierung des Abkommens gestimmt haben. Dass die versprochene Visumfreiheit in die EU immer wieder verschoben wurde, hat hingegen zu Frustration geführt. Ganz zu schweigen vom Krieg in der Ostukraine, dem bisher laut UN-Daten fast 10.000 Menschen zum Opfer gefallen sind und der auch unter internationaler Vermittlung nicht beendet werden konnte.
Doch die Reformen haben auch Schattenseiten. Dass der Gasversorger Naftogas, das "schwarze Loch des ukrainischen Budgets", inzwischen ausgeglichen bilanziert, schlägt sich dafür in hohen Energiekosten für die Haushalte nieder.
Außerdem sind die Ukrainer vor allem mit der Justiz unzufrieden - und das aus gutem Grund: Bis heute wurde niemand für die fast 100 Toten im Zentrum von Kiew, als die Gewalt am Maidan eskalierte, zur Verantwortung gezogen. Lediglich 18 Prozent der Bevölkerung sind mit der Arbeit der Regierung zufrieden - und nur 12 Prozent sind es mit dem Präsidenten, so eine Umfrage. So ist es auch ein "gemischtes Bild", das sich für Swetlana Salischtschuk ergibt. Die studierte Journalistin ließ sich auf der Liste für den "Block Petro Poroschenko" aufstellen und wurde im Herbst 2014 ins Parlament gewählt.
"Der Präsident hat nicht die hohen Erwartungen nach dem Maidan erfüllt", sagt sie jedoch heute. Gemeinsam mit den ehemaligen Journalisten Serhij Leschtschenko und Mustafa Najem gehört Salischtschuk zu den größten Kritikern des Präsidenten und ist im vergangenen Jahr in die Partei "Demokratische Allianz" eingetreten. Vor allem bei der Korruptionsbekämpfung geht ihnen der Kurs des Präsidenten, der selbst einer der reichsten Ukrainer ist, nicht weit genug. Immer noch würden viele Entscheidungen in Hinterzimmern getroffen.
"Es war unser größter Fehler, dass wir die Energie des Maidan nicht sofort in eine Partei ummünzen konnten", sagt sie. Stattdessen - auch unter dem Zeitdruck der ausgerufenen Neuwahlen - haben sich Aktivisten unterschiedlichen, bereits existierenden Parteien angeschlossen. Neue Gesichter im alten System. So würden die politischen Newcomer in Summe auch heute nur einen Bruchteil in den Parlamenten, den Ministerien und den Amtsstuben stellen. Dazu kommt, dass zuletzt einige namhafte Reformer das Handtuch geschmissen haben. "Wir werden immer schwächer", sagt Salischtschuk.
Zivilgesellschaft organisiert sich
Es gibt aber auch gute Nachrichten. Immer mehr Ukrainer werden selbst aktiv und organisieren sich in Freiwilligen- oder Nichtregierungsorganisationen. "Die Macht wird nicht mehr als etwas wahrgenommen, das vom Himmel gefallen ist", sagt Salischtschuk. Dass heute ein Präsident mit Polizeigewalt gegen Proteste vorgeht, wie damals am Maidan, sei undenkbar geworden.
Die Erwartungen haben sich nicht erfüllt. Da sind sich Schymkiw und Salischtschuk einig. "Ich kann die Frustration verstehen, aber Reformen brauchen nun mal Zeit", sagt Schymkiw. Und noch mehr Reformer, sagt Salischtschuk: "Wir sind die Troublemaker, aber noch nicht die Decisionmaker." Genug, um zu stören, aber zu wenig, um zu entscheiden.