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Stoßtrupp-Offensiven - eine neue Terrorqualität

Von Clemens M. Hutter

Gastkommentare

"Ein Hasser findet immer Hassenswertes." Dieser Befund des Psychiaters Friedrich Hacker über den RAF-Terror in Deutschland ließe sich schärfer fassen: Ein gewaltbereiter Hasser greift Hassenswertes an, weil er gewaltfreie Methoden für unwirksam hält. Genau das trifft auf den Mega-Terrorangriff in Bombay zu - am Tor zur kapitalistischen Globalisierung Indiens. Das ist die strategische und operative Steigerung der Gewalt-Qualität zum "Stoßtrupp-Terrorismus" in einem nicht Krieg führenden Staat.


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Vor 2000 Jahren mischten sich jüdisch-nationalistische "Sikarier" mit dem "Dolch im Gewande" unter das friedliche Volk und stachen verhasste Römer hinterrücks nieder. Vor einem Jahrtausend terrorisierten schiitische "Assassinen" 200 Jahre lang mit Meuchelmorden ihre sunnitischen Glaubensbrüder und unliebsame Mächtige. Ihr Name "Haschaschun" ("Haschischfresser") verweist auf Doping zur Steigerung der Angriffslust und lebt bis heute als "Assassin" für Meuchelmörder fort. Vor gut 30 Jahren mordete die RAF gezielt Repräsentanten des angeblich repressiven Regimes.

Diesen Formen der Gewalt ist gemeinsam, dass Terrorismus im konspirativen Vorfeld kaum abzufangen, eine offene Gesellschaft aber durch überraschende Gewaltakte einzuschüchtern ist. Der Entführungs- und Erpressungs-Terrorismus verschärft diese Einschüchterung.

Als weiter "verbesserte" Qualität wütet nun Selbstmord-Terrorismus - wie kurzfristig vor 30 Jahren - in Nahost. In diese Kategorie des "defensiven Selbstmord-Terrorismus" fällt auch 9/11 in den USA. Ziel war maximale Zerstörung von "Hassenswertem". Gleiches verübt der nicht minder selbstmörderische "Stoßtrupp-Terrorismus" - allerdings offensiv.

In Bombay unternahmen militärische Profis einen hervorragend koordinierten Angriff über Indiens offene Flanke, nämlich völlig überraschend nachts vom Meer aus. Mit dieser Taktik waren palästinensische Terroristen schon früher gescheitert, weil Israel seine offene Flanke längst gedeckt hatte.

Der Angriff auf Bombay erreichte überdies den angestrebten übergeordneten Zweck: Er verschärfte die latente Krise zwischen den Atommächten Indien und Pakistan und durchkreuzte die Antiterror-Strategie der USA. Pakistan ist nämlich trotz US-Unterstützung außerstande, militärische und logistische Rückzugsbasen von Al-Kaida und afghanischen Taliban auf seinem Territorium auszuräuchern. Folglich gleicht die vom Westen militärisch massiv geförderte Demokratisierung Afghanistans einem aussichtslosen Fangenspiel.

Der entscheidende Unterschied zwischen 9/11 und Bombay: Der Selbstmord-Anschlag auf die USA bewies "nur" die Verwundbarkeit einer Supermacht - der "Stoßtrupp-Terrorismus" in Indien hingegen schlug an einer gefährlichen Bruchlinie der Weltpolitik zu. Darin liegt die beklemmende Qualität dieser Terrorform.

Clemens M. Hutter war bis 1995 Ressortchef Ausland bei den "Salzburger Nachrichten".