Der vermeintlich unaufhaltsame Aufstieg der E-Books und digitaler Publikationsformen scheint sich abzuschwächen.
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Totgesagte leben bekanntlich länger, zumindest manchmal. Und kaum etwas ist in den letzten zehn Jahren häufiger der Untergang prophezeit worden als dem gedruckten Buch. "Print is dead" postulierte 2007 eine US-amerikanische Streitschrift (natürlich in gedruckter Form), und diese These wird - wen wundert’s? - vor allem im Internet beinahe schon mantrahaft vorgetragen. Dabei ist sie in den seltensten Fällen als Tatsachenbehauptung gemeint, sondern meist mit einer Art medialer Heilserwartung verbunden.
Endlich, so der mehr oder weniger unterschwellige Tenor, wird diese völlig vorgestrige analoge Publikationsform abgelöst vom Paradies des Digital Publishing, in dem der Autor König ist und in dem kein Verlag, kein Lektor, kein Herausgeber mehr als lästiger Gatekeeper fungiert. Wer glaubt, etwas zu sagen zu haben (und das ist nach Ansicht der Digitalfetischisten im Grunde jeder), kann dies als Self-Publisher fortan völlig ungehindert tun, und wer sich am cleversten selbst vermarktet (natürlich vor allem über die Sozialen Medien), wird am Ende den Erfolg haben, den er verdient.
Sinkender Umsatz
Auf die anderen, also diejenigen, die mit dem Gedruckten groß geworden sind und die - in mitunter durchaus kulturkonservativer Manier - an das "gute Buch" glauben, wirkt der scheinbar unaufhaltsame Siegeszug des elektronischen Publizierens und Lesens wie eine Bedrohung, die Gewohntes und Bewährtes hinwegfegt, wie ein medialer Paradigmenwechsel, der mit einer beklagenswerten inhaltlichen Verflachung verbunden ist.
Und nun also das: In den ersten fünf Monaten dieses Jahres sank der Umsatz von E-Books in den USA um 10 Prozent. Im Jahr zuvor war er noch um 4 Prozent gewachsen. Und in Deutschland stieg der Umsatz mit elektronischen Büchern 2014 lediglich um 7,6 Prozent, der Umsatzanteil am Publikumsmarkt wuchs von 3,9 Prozent im Jahr 2013 auf 4,3 Prozent. Zum Vergleich: Von 2012 auf 2013 konnten die E-Book-Umsätze noch um 60,5 Prozent zulegen. Wobei der tatsächliche Marktanteil der E-Books im deutschsprachigen Raum irgendwo zwischen 5 und 10 Prozent liegt, wenn man auch Schul- und Fachbücher sowie den statistisch nur unzureichend erfassten Bereich des Self-Publishing dazurechnet. Trotzdem: Der vermeintlich unaufhaltsame Aufstieg digitaler Publikationsformen scheint sich abzuschwächen oder gar zu stagnieren, und die "New York Times" konstatierte denn auch eine "erstaunliche Hartnäckigkeit des gedruckten Buches". Alles also halb so schlimm und der Hype ums Elektronische nur ein digitales Strohfeuer?
Eines zumindest scheint sicher zu sein: Die großen Wachstumszahlen sind mit dem E-Book als bloßer weiterer Verwertungsform des gedruckten Buches nicht mehr zu erwarten. Der noch gestern innovative Werbespruch "Dieses Buch ist auch als E-Book erhältlich" klingt heute wie ein alter Hut beziehungsweise wie eine banale Selbstverständlichkeit, denn mit welchem Grund sollte ein Verlag darauf verzichten, den Inhalt eines von ihm verlegten Buches auch in digitaler Form für Lesegeräte bereitzustellen?
Das Augenmerk der Verlage richtet sich denn auch in jüngster Zeit auf andere Bereiche, nämlich auf Texte, die nur noch in elektronischer Form und nicht mehr gedruckt erscheinen. Das geschieht zum einen dergestalt, dass inzwischen vergriffene Printtitel nur noch als E-Book neu aufgelegt und damit verfügbar gehalten werden. So wird beispielsweise der S. Fischer Verlag die Pléiade-Edition der berühmten "Cahiers / Hefte" von Paul Valéry im Jänner 2016 wieder als geschlossene Gesamtausgabe anbieten - und zwar ausschließlich digital. Das befreit die Verlage zumindest von hohen Lagerkosten und von schwierigen Auflagenkalkulationen. Zum anderen - und das ist der eindeutig wichtigere Bereich - setzen alle großen Publikumsverlage inzwischen auf eigene Programmsegmente, deren Titel rein digital erscheinen. Sie tragen meist wenig aufregende Namen wie "digiBook", "E-only" oder "E-Original", der Droemer Verlag gehört mit seinen "eRiginals" fast schon zur Speerspitze der Originalität.
Kleiner Lesehunger
Auch der Münchner Hanser-Verlag, eines der literarischen Flaggschiffe im deutschsprachigen Raum, erprobt solch neue Wege: Seit ziemlich genau einem Jahr gibt es "Hanser Box", einen eigenen Verlag im Rahmen der Verlagsgruppe, dessen Produkte nur in digitaler Form vorliegen. 48 Titel sind inzwischen erschienen, zunächst jede Woche einer, seit einiger Zeit - die Texte wollen schließlich auch gelesen werden - im Zweiwochenrhythmus.
Am wenigsten überraschend sind die Autorennamen: T. C. Boyle, Patrick Modiano, Roberto Saviano, Henning Mankell, Konrad Paul Liessmann, Janne Teller, Thomas Glavinic, Daniel Cohn-Bendit, Franzobel - die Crème de la Crème von Mutter- und Töchterverlagen ist hier versammelt, und dass die Münchner mit diesem hart erarbeiteten Pfund wuchern, ist ihnen nicht zu verdenken. Zumal im Kielwasser der Prominenz auch unbekanntere Autoren vertreten sind.
Viel interessanter als die Namen aber ist, um welche Texte es sich dabei handelt. Vom Umfang her reichen sie nicht für ein klassisches Buch, während sie andererseits für Zeitungen zu lang sind. Im Angebot sind Erzählungen, Essays, Reportagen, Streitschriften, ein "Wallander-Kompendium" - also Texte für den kleinen Lesehunger zwischendurch, die natürlich auch Appetit auf mehr von den jeweiligen Autoren machen sollen. Zudem kann man schneller auf tagesaktuelle Fragen reagieren, wie etwa das Buch von Christian Felber über das geplante Freihandelsabkommen TTIP oder Simon Halders "Faktenckeck Asyl" mit dem Titel "Die Angst vor dem ‚Ansturm‘" belegen. Und auch der Preis ist dazu angetan, es einmal probeweise zu versuchen: Zwischen 1,99 und 4,99 Euro kosten die Titel. Für den Verlag bleibt dabei, wenn überhaupt, nicht allzu viel Gewinn, denn jedes Buch will schließlich genauso produziert werden wie ein Printtitel.
Digitale Spielwiese
Johanna Schaumann, bei Hanser für den Bereich Elektronisches Publizieren verantwortlich, weist denn auch mit Nachdruck darauf hin, "dass die Kostenstrukturen in Verlagen für Buch und E-Book mit Ausnahme der Kosten für Druck und Papier annährend gleich sind. Sowohl das Print-Buch als auch das E-Book müssen honoriert, übersetzt, gesetzt, Korrektur gelesen werden, sie wollen ausgeliefert werden und beworben sein." Im Moment ist "Hanser Box" denn auch eher eine Art digitaler Spielwiese, ein Lern- und Experimentierfeld für inhaltliche Formen und Vertriebswege: "Die Texte sind mal anspruchsvoll, mal unterhaltsam. Kurze Textpassagen, die auf jedem Reader - unabhängig von der Displaygröße - angenehm zu lesen sind. Was funktioniert, was nicht? Die Boxen verkaufen sich unterschiedlich, aber es ist wichtig, dass man die verschiedenen Textsorten ausprobieren kann", sagt Johanna Schaumann.
In den Nischen des Marktes haben sich inzwischen auch einige reine E-Book-Verlage eingerichtet: "Das Beben" will der Novelle im digitalen Zeitalter zu neuen Höhenflügen verhelfen, "mikrotext" hat sich dem "short digital reading" verschrieben, und "CulturBooks" orientiert sich umfangstechnisch an der Musikbranche: Man hat Singles, Maxis, Longplayer und Alben im Angebot. Am avanciertesten im Bereich digitaler Literatur agiert momentan der Frohmann Verlag in Berlin, dessen Gründerin Christiane Frohmann sich nicht nur als Theoretikerin des Digitalen einen Namen gemacht hat, sondern auch mit bemerkenswerten neuen Textformen experimentiert.
So heißt es etwa über das von ihr herausgegebene E-Book "Tausend Tode schreiben": "Die Idee war und ist, in Form von tausend kurzen Texten tausend höchst subjektive Ansichten auf den Tod zu versammeln, damit diese zusammenwirkend einen transpersonalen Metatext über den Tod schreiben, aus dem wiederum ein plausibles Bild dessen entsteht, wie der Tod in der heutigen Gesellschaft wahrgenommen wird, welche Realität er hat, wie und was er ist."
Der Käufer bekommt zunächst eine nur vorläufige Version (mitsamt Updates) und kann die hinzukommenden Beiträge so "abonnieren", dass er keinen verpasst. "Der Veröffentlichungszeitpunkt der finalen Version wird bestimmt von den eingehenden Texten." Alles im Fluss also, wie es sich fürs Digitale gehört. Man könnte in inzwischen schon etwas angestaubter Fortschrittsmanier von einem "E-Book 2.0" oder gar "3.0" sprechen, also von elektronischen Büchern, die sich mehr und mehr vom klassischen Buch und seinen Kernkategorien der Linearität, der Abgeschlossenheit und der Autorschaft lösen. Ein Hauptproblem des rein elektronisch Publizierten aber, vor dem alle Verlage stehen, ist bisher noch nicht wirklich gelöst: Es wird in der Öffentlichkeit schlicht zu wenig wahrgenommen, um wirklich gewinnbringende Umsätze zu generieren. Die klassischen Rezensionsorgane besprechen so gut wie keine E-Books, und selbst im Internet beschäftigt man sich vorwiegend mit dem, was auch gedruckt vorliegt.
"Eigenzeit" der Bücher
Andererseits bringt das elektronische Self-Publishing - also das Publizieren eigener Texte ohne einen Verlag - durchaus erfolgreiche Titel hervor. Vor allem der Versandhändler Amazon nutzt seine Marktmacht, um sich als Plattform für solche Texte zu profilieren. Er lockt mit einem hohen Honoraranteil für den Autor (bis zu 70 Prozent vom Ladenpreis) und natürlich der - dank des Lesegeräts Kindle - wuchtigen Position auf diesem noch recht neuen Geschäftsfeld, das sich weitgehend jenseits des klassischen Buchhandels herausgebildet hat. Erfolgreich ist auf diesem Gebiet bisher allerdings nur reine Genreliteratur in der Nachfolge von "Shades of Grey", die eher den Groschenheften und der literarisch wertlosen Massenliteratur als den seriösen Verlagen Konkurrenz macht.
Noch, muss man sagen, denn dass eine renommierte Jugendbuchautorin wie Cornelia Funke beschlossen hat, zumindest ihre in den USA und Großbritannien erscheinenden Bücher fortan in eigener Regie zu veröffentlichen, verheißt nichts Gutes: Wenn den Verlagen ausgerechnet die Autoren davonlaufen, die als Cashcows einen Gutteil des Programms finanzieren, dann sieht es tatsächlich düster aus für den klassischen Publikumsverlag.
Insofern geht es im Grunde schon längst nicht mehr um die Frage "Print oder digital", sondern darum, ob Verlage mit ihren Kompetenzen in Sachen Lektorat und Vertrieb, aber auch mit ihren Ansprüchen an Qualität und "Eigenzeit" des Buches (in welcher Form auch immer) im Zeitalter des Livetickers, der Kurznachricht, des kursorischen Lesens und der abgekürzten Kommunikation noch eine Zukunft haben.
Andreas Wirthensohn, geboren 1967, ist freier Lektor, Übersetzer und Literaturkritiker und lebt in München.