Der Soziologe Arno Pilgram sieht in der Jugendkriminalität auch manch innovative Züge - und will die Utopie einer gefängnislosen Gesellschaft nicht ganz aufgeben.
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"Wiener Zeitung": Mehr als jeder zweite kriminell gewordene und zu einer Freiheitsstrafe verurteilte junge Erwachsene wird innerhalb von fünf Jahren rückfällig, das zeigt der jüngste Sicherheitsbericht von Innen- und Justizministerium. Sind Strafen angesichts solcher Zahlen überhaupt noch zeitgemäß?
Arno Pilgram: Was im Strafrecht den Leuten mit Freiheitsstrafen angetan wird, hat gerade bei jungen Menschen eine eher kontraproduktive Wirkung. Interessant ist, dass die Wirkung des Strafrechts generell total überschätzt wird. Das, was von Richter zu Richter, von Gericht zu Gericht, von Region zu Region geschieht, ist sehr unterschiedlich. Auf die kriminalpräventive Wirkung hat das wenig Einfluss, wie unsere Studien immer wieder zeigen. Grund genug, Strafen zunächst einmal in Frage zu stellen.
In Ihrer jüngsten Studie vergleichen Sie die Sanktionspraxis im Umgang mit Erwachsenenkriminalität in Deutschland, Österreich und der Schweiz. Wie lauten die Ergebnisse?
In Österreich gibt es nur halb so viele Verurteilungen wie in Deutschland, es werden aber pro Einwohner doppelt so viele Freiheitsstrafen verhängt. Die Geldstrafen und Geldbußen spielen im Vergleich zu Deutschland und der Schweiz eine geringere Rolle. Man sieht also im internationalen Vergleich sehr unterschiedliche Sanktionsmuster, die sich eben nicht durch eine unterschiedliche Sicherheitslage erklären lassen, denn die ist in diesen drei Ländern sehr ähnlich.
Wie ist die hiesige starke Tendenz zu Freiheitsstrafen dann zu erklären?
Das lässt sich nur durch Tradition erklären, die sich im Lauf der Zeit herausgebildet hat. Die gilt dann im jeweiligen Land als selbstverständlich. Es gilt, diese Praktiken zu hinterfragen, und die Selbstverständlichkeit, wie mit Strafen umgegangen wird, einmal aufzubrechen.
Kann die Justiz überhaupt das eigene System von außen betrachten und tiefgehende Traditionen überdenken?
Es gibt im Bereich der Justiz eigene Kontrollmechanismen durch übergeordnete Gerichte. Aber dadurch gibt es nur eine Kontrolle der richtigen Rechtsauslegung. Was nicht funktioniert, ist eine Überprüfung der justiziellen Praxis als soziales Handeln. Die sozialen Konsequenzen werden viel zu wenig thematisiert. Dazu braucht es einen Blick von außen. Die Soziologie nähert sich dem von einer ganz anderen Seite.
Gerade was Jugendkriminalität angeht, hat die Kriminalsoziologie einen alternativen Zugang.
Kriminalität wird immer als etwas sehr Negatives gesehen. Wenn man es aber historisch betrachtet, hat Kriminalität stets auch einen innovativen Zug gehabt. Es geht immer um die Herausforderung bestehender Normen. Das zeigt auch die jüngere Vergangenheit. Was wir heute als Diversität feiern, wurde vor nicht allzu langer Zeit noch problematisiert und kriminalisiert. Heute akzeptierte Lebensformen mussten von sozialen Bewegungen im Kampf gegen Recht und Justiz erstritten werden.
Ist Jugendkriminalität ein Motor der gesellschaftlichen Entwicklung?
Es geht immer um das Austesten von Normen und Verbindlichkeiten. Jugendliche übertreten dabei aber nicht nur Gesetze, sondern befolgen damit oft nur andere ehrenwerte Normen - wie etwa Risikobereitschaft, Solidarität oder Männlichkeit. Solche Jugendlichen sind ja nicht auf allen Linien abweichend. Indem sie eigene oder kulturelle Regeln auf ihre Weise ernst nehmen und missverstehen, übertreten sie die strafrechtlichen Regeln. Kriminelle Jugendliche sollte man unbedingt auch unter diesem Gesichtspunkt betrachten.
Diese Betrachtungsweise stößt wahrscheinlich in der Bevölkerung auf wenig Zustimmung. Angesichts der jungen IS-Rekruten herrscht eher Hysterie als Verständnis.
Die Frage ist, ob man diese Jugendlichen als "Kombattanten" oder "Kindersoldaten" ansieht. Werden Sie als Kombattanten gesehen, die Teil dessen sind, was der Islamische Staat in Syrien anrichtet, dann ist die offensichtliche Notwendigkeit gegeben, dem auch militärisch Einhalt zu gebieten. Wenn man die Jugendlichen, die ja unsere Kinder sind, dagegen als geistig entführte Kindersoldaten wahrnimmt, hätte man eine ganz andere Ausgangslage. Es ginge dann, selbst wenn sie die Soldatenrolle ausgefüllt haben, um ihre Rehabilitation, um die Reintegration in eine friedliche Gesellschaft. Niemand käme dann auf die Idee, diese jungen Menschen nur zu internieren oder gar auszubürgern.
Ein passendes Beispiel sind meiner Meinung nach erfolgreiche Ausstiegsprogramme für Rechtsextreme. Natürlich gibt es "harte Nüsse", die ideologisch besonders verbohrt sind. Aber gerade bei den IS-Kämpfern ist die ideologische Basis sehr schwach. Ich glaube nicht, dass eine "Bekehrung" in die andere Richtung chancenlos ist.
Sie geben also Entwarnung?
Jugendliche suchen immer Wege, sich abzusetzen. Auch früher gab es politische Radikalisierung unter Jugendlichen. Es kommt jetzt noch dazu, dass wir eine gesellschaftliche Situation haben, die sich radikal von der Situation der letzten Jahrzehnte unterscheidet. Die Perspektive, sich eine Karriere und eine Familie aufbauen zu können, ist für alle, die nicht zur Erbengeneration gehören, schlechter geworden. Die Kinder von Armuts-Zuwanderern haben besonders schlechte Karten. Generell steigen die Arbeitslosenraten bei Jungen - und selbst bei besser Gebildeten herrschen prekäre Arbeitsverhältnisse. Da zu erwarten, dass nichts passiert, wäre naiv. Die jungen Leute suchen Bestätigung und Sinn und verstoßen gegen die Gesetze einer Gesellschaft, die ihnen wenig bietet. Darauf sollten wir nicht mit Gegengewalt antworten, sondern mit Deeskalation.
Die Strafrechtsreform spiegelt laut Justizministerium eine neue Wertehaltung wider. Gewaltdelikte sollen härter bestraft werden, bei Vermögensdelikten werden die Wertgrenzen heraufgesetzt und damit milder bestraft. Ist das in Ihrem Sinn?
Die Reform wird als große Strafrechtsreform verkauft. Wenn man genauer hinschaut, beschränkt sich das Ganze darauf, dass das Verhältnis zwischen Sanktionen gegen Vermögens- und Körperverletzungsdelikte geringfügig verändert wird.
Also kein Grund zur Freude?
Ich behaupte, es wäre durchaus möglich gewesen, die Sanktionsdrohungen zu halbieren - ohne Verzicht auf kriminalpräventive Wirkungen. Eine bloße Reduktion hätte man wohl öffentlich einfach nicht durchgebracht. Daher ist es der übliche Mix geworden aus "liberal" bei Vermögensdelikten und "hart" bei Gewaltdelikten, also quasi für jeden etwas. Man hat auch nicht darauf geachtet, inwieweit die vorhandenen Strafrahmen überhaupt ausgenutzt werden. Hinter der Strafverschärfung im Bereich der Körperverletzung steckt immer noch ein paternalistischer Gestus: der Schutz Schwächerer, der Schutz vor privater Gewalt als vornehme Aufgabe von Herrschaft. Die ganze Reform ist keine empirisch gestützte Geschichte, sondern eher von politischer Symbolik getragen.
Jede fünfte Frau erlebt einmal in ihrem Leben häusliche Gewalt. In der Strafrechtsreform werden die Sanktionen bei Gewalt in der Familie verschärft. Ist das nicht begrüßenswert?
Bei Gewalt im Nahbereich soll die Diversion - also der informelle, außergerichtliche Tatausgleich - wegfallen. Er wird jetzt als ungenügend definiert. Das ist eine sehr negative Entwicklung. Es wird auf die erzieherische Signalwirkung des Strafrechts gesetzt und auf gerichtliche Verfahren. Das ist ein fataler Rückschritt.
Warum?
Die außergerichtlichen Möglichkeiten wie Tatausgleich, begleitete und genutzte Probezeiten oder gemeinnützige Leistungen haben sich in diesem Bereich sehr bewährt. Das fällt jetzt alles weg.
Geht es nicht auch um die symbolische Wirkung? Die Täter häuslicher Gewalt wurden ja lange gar nicht belangt.
Das Problem ist auch hier wieder die Unterstellung, dass den Betroffenen mit Strafen geholfen sei und nicht mit einer Neuordnung der Beziehungen, die auch ein Weiterleben möglich macht. Es geht ja nicht in allen Fällen um Trennung. Es geht darum, herauszufinden, was den Opfern mehr bringt. Oft profitieren Opfer und Täter von einer Diversion mehr. Aber dieser Vorteil wird der symbolischen Wirkung geopfert. Der Normbefestigung wird quasi ein höherer Wert eingeräumt als der Befriedigung der Betroffenen. Da muss man sehr vorsichtig sein und klug abwägen. Sonst ist das Generalprävention mit Menschenopfern.
Ist es anachronistisch, sich derart auf den Täter zu konzentrieren? Interessengruppen wie der "Weiße Ring" fordern schon lange, sich viel mehr an den Bedürfnissen der Opfer zu orientieren.
Die Idee, zuerst einmal beim Täter anzusetzen - und zwar mit einer Strafe, ist ziemlich altmodisch und trivial. Das löst die Probleme nicht. Das Interessante ist, herauszukriegen, welche Situationen dazu führen, dass überhaupt Probleme an die Polizei und die Justiz herangetragen werden. Den Täterfokus hat die Justiz zumindest teilweise überwunden. Gerade die Einführung des Tatausgleichs in den Achtzigerjahren hat das Strafrecht zivilisiert. Das Potenzial, das die Konfliktparteien zum Ausgleich des Schadens und der Kränkungen selbst aufbringen, kann genutzt werden. Das Strafrecht hat sozial konstruktive Ideen integriert. Wir müssen jetzt nur aufpassen, dass wir nicht zurückfallen. Der schon erwähnte Ausschluss der Diversion bei Straftaten im familiären Bereich ist ein Beispiel für solch einen Rückschritt.
Es geht Ihnen als Kriminalsoziologe um eine ganzheitliche Sicht, das wird auch bei der sogenannten Ausländerkriminalität deutlich. Die gestiegenen Anzeigen bezeichnen Sie als Zeichen geglückter Integration.
Das ist natürlich eine unkonventionelle Betrachtungsweise. Es grassiert schon lange die Angst vor einer Parallelgesellschaft, dabei ist diese sehr wichtig für die Integration. Die Leute können ja überhaupt erst durch solche eigenen Vereine und Gruppierungen hier Fuß fassen. Die Möglichkeit, hier etwas vorzufinden, was sie interessiert, was ihrer Kultur entspricht, ist sehr wichtig. Natürlich gibt es Probleme, wenn in diesen Zuwanderer-Gesellschaften Frauen, Kinder oder Homosexuelle benachteiligt werden. Die Frage ist, ob unser Rechtssystem, das ja Gleichheit garantiert, dort hineinwirkt. Das scheint durchaus der Fall zu sein. Es gibt Hinweise darauf, dass sehr viel von der sogenannten Fremdenkriminalität tatsächlich durch Anzeigen von Straftätern aus dem eigenen Mi-lieu und Familienkreis bekannt wird. Die Frage ist doch, wie wäre es, wenn es überhaupt keine Anzeigen gäbe. Ein Beispiel dafür ist eine angeblich eher gewaltbereite Gruppe, die Tschetschenen. Wenn die - was der Fall ist - in der Kriminalstatistik kaum auftauchen, dann stimmt entweder die Diagnose Gewaltbereitschaft nicht, oder die Probleme der Commu- nity werden irgendwo unter Verschluss verhandelt. Kriminalanzeigen sind nicht immer eine schlechte Nachricht. Das ist eine Lesart gegen den Strich.
Sie kritisieren den alarmistischen medialen Umgang mit Statistiken. Hat sich da etwas geändert?
Polizei und Medien suchen sich bei jedem Sicherheitsbericht genau das heraus, womit man am besten Alarm schlagen kann. Bei Jugendlichen ist das natürlich besonders beliebt, obwohl die Jugendkriminalität in den letzten Jahren kontinuierlich abnahm. Den Höhepunkt hatte die Kriminalisierung der Jugendlichen kurz vor der Wirtschaftskrise erreicht. Junge Menschen gerieten damals häufig als Amokläufer und unkontrolliert gewalttätig in die Medien. In der Zwischenzeit hat sich das Bild der Jugendlichen in den Medien sehr gewandelt. Jugendliche sind als Opfer und Leidtragende der Gewalt durch Erwachsene präsent geworden.
Bevor der IS auf der Bildfläche auftauchte, traten die Jugendlichen an vielen Orten der Welt als Pioniere eines gesellschaftlichen Umbruchs ohne Gewalt in Erscheinung. Friedliche Jugendbewegungen - wie etwa am Tahrir-Platz in Ägypten - waren plötzlich Thema, und die Gewalt auf der Seite des Staates. Ob Kinder- oder Jugendkriminalität überhaupt angezeigt wird, ist in hohem Maße eine Frage des Ermessens. Reaktionen im Einzelfall, auch über eine Strafanzeige, haben viel mit der Beurteilung im öffentlichen Diskurs zu tun. Ist es nötig, streng zu sein? Gehören Jugendliche generell diszipliniert oder mit ihren Problemen mehr beachtet?
Ist das nicht utopisch?
Die Kriminalsoziologie macht darauf aufmerksam, wo in unserer Gesellschaft ein Übermaß an Zwang, Gewalt und Strafe besteht. Sie setzt auf Deeskalation, auf die Vorbildwirkung von Institutionen und ein ruhiges, besonnenes Vorgehen. Das heißt nicht, dass man sich der Illusion hingibt, dass es ohne Zwang oder ohne Gewaltmonopol des Staates gehen kann. Manchmal müssen Menschen aus dem Verkehr gezogen werden, aber die Frage bleibt, wie lange das nötig ist. Sicherheitsmaßnahmen ja, Strafen naja. Strafen ist eine Form des Abrechnens, die kontraproduktiv sein kann.
Was ist aus der Utopie einer gefängnislosen Gesellschaft geworden, die u.a. der französische Philosoph Michel Foucault initiierte? Der "Abolitionismus" hatte es in den Siebzigerjahren ja sogar ins Parteiprogramm der Regierungspartei SPÖ geschafft.
Der "Abolitionismus" geht zurück auf die Bewegung gegen die Sklaverei und gegen Zwangsarbeit. Gefängnisse waren ursprünglich Zwangsarbeits-Anstalten, was die Industrialisierung überflüssig machte. Um diese Utopie ist es sehr still geworden. Aber ich fände es gut, das nicht ganz aus dem Kopf zu verlieren und sich die Frage zu stellen, welche Gruppen in unseren Gefängnissen generell fehlplatziert sind. Für mich sind das vor allem die Jugendlichen, die psychisch Kranken und die Migranten. Für die ersten beiden Gruppen wird derzeit von der Politik gezielt nach Alternativen gesucht, nicht aber für ausländische Gefangene. Viele von ihnen haben als Flüchtlinge die Außengrenzen der Festung EU illegal überschritten, um dann mangels eines zugebilligten Platzes wieder in Festungen innerhalb Europas eingeschlossen zu werden. Das ist keine Lösung.
Woher rührt eigentlich ihr Engagement für ein humaneres Kriminalwesen?
Das hat viel mit meiner persönlichen Geschichte zu tun. Meine Mutter war Direktorin in einer Sonderschule mit angeschlossenem Wohnheim - und ich bin in der Dienstwohnung dieser Schule aufgewachsen. Das Heim wurde von geistlichen Schwestern geführt, es wohnten dort angeblich geistig behinderte Kinder. Das hat mir damals eine Ahnung dessen vermittelt, was eine geschlossene Anstalt ist, und eine Vorstellung davon, was für ein Privileg es ist, hinausgehen zu dürfen. Als junger Mensch hat mich dieses Herunterschauen auf diese Menschen sehr beschäftigt - und die Erkenntnis, welche Schattenseiten Fürsorge haben kann. Zum Psychologiestudium hat mich die Frage geführt, ob man mit sozial Benachteiligten und Gefährdeten nicht anders umgehen könnte.
Arno Pilgram wurde 1946 in Klagenfurt geboren. Er studierte Psychologie und Anthropologie in Wien und habilitierte sich in Frankfurt am Main an der Johann Wolfgang Goethe-Universität in Rechts- und Kriminalsoziologe. Seine Dissertation befasste sich mit selbsterfüllenden Prophezeiungen in der Arbeit mit Straffälligen. Er war Mitbegründer des Instituts für Rechts- und Kriminalsoziologie in Wien und zwischen 2000 und 2004 dessen Leiter. Seine Forschungsschwerpunkte sind Rechtspolitik und Kriminalitätsentwicklung, außerdem erarbeitet er Datengrundlagen für die Justiz.
Gemeinsam mit Kollegen gab er zuletzt den Sammelband "Einheitliches Recht für die Vielfalt der Kulturen? Strafrecht und Kriminologie in Zeiten transkultureller Gesellschaften und transnationalen Rechts" (LIT Verlag) heraus.