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Wie wollen wir zusammenleben? Das ist die wichtigste Frage für jede Gemeinschaft - und je vielfältiger und unterschiedlicher, desto dringlicher stellt sie sich. Sicher ohne Gewalt, mit Schutz vor Betrug und sonstigen kriminellen Machenschaften. Hier fließen die Antworten in einen Gesetzeskatalog, dessen Nichtbeachtung konkrete Strafen nach sich zieht.
Aber wie verhält es sich bei Fragen, die weniger existenziell, aber trotzdem wichtig sind, als symbolische Geste, hinter der ein gesellschaftlicher Wille zum Ausdruck kommt? Etwa in der Frage der Vollverschleierung? Tatsächlich gibt es die Möglichkeit von Gesetzen, die nicht zwangsbewehrt sind, also reine Soll-Bestimmungen sind, und die trotzdem dem Ausdruck bringen, wie eine Gesellschaft zusammenleben will.
Der juristische Fachausdruck dafür lautet "lex imperfecta". Dabei handelt es sich um ein - wörtlich übersetzt - "unvollkommenes Gesetz", dessen Verletzung weder Nichtigkeit der Rechtshandlung noch Strafe zur Folge hat. Es ist dies die Aufforderung, ein bestimmtes Verhalten zu setzen oder unterlassen. Ein Verstoß dagegen ist nur straffrei, nicht jedoch folgenlos. Denn der Regelbrecher rückt mit dem Regelbruch in die Öffentlichkeit. Das erinnert an die Fortsetzung des Prangers mit den Methoden unserer Zeit.
Ob das ein Rückschritt ist, lässt sich schwer feststellen. In der abstrakten juristischen Theorie vielleicht. Aber das System des öffentlichen Prangers erlebt seit Jahrzehnten eine Hochblüte, ganz ohne juristische Legitimation. In den (alten wie neuen) Medien, die von der Norm abweichendes Verhalten von Prominenten wie unglücklichen Nobodys mit Lust anprangern, wenn sich daraus nur eine Geschichte ergibt.
Die Debatte um eine lückenlose Durchsetzungsfähigkeit oder die Unterscheidung zwischen Touristinnen und hier Ansässigen trifft deshalb nicht den Kern eines Verbots der Vollverschleierung. Entscheidend ist allein, ob diese Forderung der Vorstellung eines gedeihlichen Zusammenlebens in einer Gesellschaft entspricht. Das gilt es vorrangig politisch zu diskutieren.
Das stärkste Gegenargument ist deshalb auch nicht die praktische Umsetzbarkeit, sondern - wiederum - eine Grundsatzfrage unseres Zusammenlebens: Der liberale Imperativ, dass alles, was nicht ausdrücklich verboten ist, erlaubt sein muss, würde durch solche Soll-Bestimmungen langsam, aber nachhaltig untergraben.