Dem Urteil des Europäischen Gerichtshofs (EuGH), ob für den Schutz gegen Umweltkriminalität in der EU nach wie vor die Mitgliedsstaaten zuständig sind oder bereits die Union dafür zu sorgen hat, kommen weit reichende Konsequenzen bei den strafrechtlichen Kompetenzen der EU zu.
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Das Vorliegen strafrechtlicher Kompetenzen in der EU ist seit langem bestritten. Zum einen behalten die Artikel 135 EGV (Zollverstöße) und 280 EGV (Betrügereien gegen die finanziellen Interessen der EG) die Anwendung des Strafrechts und die Strafrechtspflege in der Union den Mitgliedsstaaten vor, zum anderen übertragen die Art. 29, 30 und 31 lit. e EUV - im Rahmen der "Justiziellen Zusammenarbeit in Strafsachen" - der EU eine strafrechtliche Zuständigkeit, insbesondere was die Bestimmung der Tatbestandsmerkmale strafbarer Handlungen und der anwendbaren Sanktionen betrifft. Mit seinem Urteil vom 13. September 2005 in der Rs. C-176/03, in dem der EuGH einer Nichtigkeitsklage der Kommission gegen den Rahmenbeschluss des Rates vom Jänner 2003 über den Schutz der Umwelt durch das Strafrecht stattgab, löst der Gerichtshof diese Streitfrage endgültig.
Der EuGH stellt in diesem Zusammenhang fest, dass zwar das Strafrecht ebenso wie das Strafprozessrecht grundsätzlich nicht in die Zuständigkeit der Union fallen, dies den Gemeinschaftsgesetzgeber jedoch nicht daran hindern kann, Maßnahmen in Bezug auf das Strafrecht der Mitgliedsstaaten zu ergreifen, die seiner Meinung nach erforderlich sind, "um die volle Wirksamkeit der von ihm zum Schutz der Umwelt erlassenen Rechtsnormen zu gewährleisten". Immer dann, "wenn die Anwendung wirksamer, verhältnismäßiger und abschreckender Sanktionen durch die nationalen Organe eine zur Bekämpfung schwerer Beeinträchtigungen der Umwelt unerlässliche Maßnahme darstellt", kann beziehungsweise muss der Gemeinschaftsgesetzgeber tätig werden.
Die Bedeutung dieses Grundsatzurteils geht weit über den Bereich des Umweltschutzes hinaus, da dieselbe Argumentation auch ausnahmslos auf die übrigen gemeinsamen Politiken sowie die vier Grundfreiheiten des Binnenmarkts (freier Warenverkehr, freier Personenverkehr, freier Dienstleistungsverkehr und freier Kapitalverkehr) - für die es zwingende Normen gibt, deren Wirksamkeit gegebenenfalls durch strafrechtliche Normen und Sanktionen gewährleistet werden muss - übertragen werden kann. Der EuGH differenziert dabei nicht nach der Art der strafrechtlichen Maßnahmen, sein Ansatz ist vielmehr funktionsorientiert. Es ist die dem Gesetzgeber obliegende Notwendigkeit, für die Einhaltung des Gemeinschaftsrechts zu sorgen, die ihm ermöglicht, strafrechtliche Maßnahmen vorzusehen.
Kann daher die volle Wirksamkeit des Gemeinschaftsrechts nur durch strafrechtliche Maßnahmen gewährleistet werden, dann dürfen diese unter anderem Folgendes einschließen: den Grundsatz der strafrechtlichen Verfolgung, die Definition des Straftatbestands, also der Tatbestandsmerkmale und - soweit angemessen - auch die Strafart und das Strafniveau oder sonstige Maßnahmen in Bezug auf das Strafrecht.
Damit verfügt die Union immer dann (auch) über eine strafrechtliche Kompetenz, wenn dies für die effektive Durchsetzung einer Gemeinschaftskompetenz unerlässlich ist. So schlüssig diese Konsequenz auch rechtsdogmatisch erscheinen mag, so sehr wird sie Wasser auf die Mühlen derer sein, die darin wieder eine weitere Kompetenzausdehnung der EU sehen.