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Regierungspartei AKP erhält mehr Stimmen, aber weniger Mandate. | Premier Erdogan will nun gemeinsam mit anderen Parteien an neuer Verfassung für Türkei arbeiten. | Ankara. Sanftmut ist nicht unbedingt etwas, was Recep Tayyip Erdogan oft an den Tag legt. Doch als der türkische Premier am Sonntagabend auf den Balkon des Hauptquartiers seiner Partei AKP in Ankara trat, gab er sich in seiner Ansprache vor jubelnden Anhängern betont versöhnlich. Er entschuldigte sich sogar für den Fall, dass er im Wahlkampf jemanden beleidigt habe.
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Denn die Kampagne vor der Parlamentswahl war keinesfalls von sanften Tönen geprägt. Vielmehr wechselten Angriffe auf politische Gegner mit zahlreichen Versprechen - deren Finanzierung noch offen ist - ab. Doch dürfte es in erster Linie etwas anderes gewesen sein, dass die Hälfte der Türken für die allein regierende AKP stimmen ließ: die Stabilität, mit der Erdogan warb.
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Fast neun Jahre nun ist die konservative AKP mit ihren islamischen Wurzeln an der Macht. In dieser Zeit wuchs die Wirtschaft stark und wurden zahlreiche Reformen eingeleitet. Das gehörte zu den Gründen, warum die AKP zum dritten Mal in Folge als Siegerin einer Parlamentswahl hervorging. Ihren Stimmenanteil konnte sie noch dazu um drei Prozentpunkte gegenüber 2007 steigern: 49,9 Prozent der Wahlberechtigten votierten für Erdogans Fraktion, bei einer Wahlbeteiligung von rund 87 Prozent. Die AKP kann nun - trotz eines geringen Mandatsverlustes - weiter allein die Regierung stellen.
Zusammenarbeit mit Opposition notwendig
Doch reichen die 326 Mandate im künftigen Parlament nicht, um alleine eine neue Verfassung durchzusetzen. Die Änderung des Gesetzes, das nach einem Militärputsch 1980 erarbeitet wurde, ist eines der zentralen politischen Versprechen der Regierung - und auch die Europäische Union drängt darauf. Allerdings sind die Versuche bisher nicht zuletzt am Widerstand der Opposition gescheitert. Diese hat allerdings im Wahlkampf Gesprächsbereitschaft signalisiert.
So wird Erdogan auch in der nächsten Legislaturperiode nicht umhin kommen, mit den anderen Fraktionen im Abgeordnetenhaus zu verhandeln. Schon kündigte der Premier an, einen möglichst breiten Konsens bei der Erarbeitung der neuen Verfassung zu suchen. Diese solle mit den anderen politischen Parteien, der Zivilgesellschaft und Akademikern diskutiert werden.
Doch müsse der AKP bewusst sein, dass sie es mit einer gestärkten CHP zu tun habe, sagte deren Vorsitzender Kemal Kilicdaroglu. Er hatte im Vorjahr die Leitung der größten Oppositionspartei übernommen - und sie nun zum besten Ergebnis in den letzten drei Jahrzehnten geführt. Die linkskonservative Fraktion, die nun wieder mehr sozialdemokratische Tendenzen an den Tag legen möchte, bekam ein Viertel der Wählerstimmen und erhält 135 Parlamentssitze.
Während die rechtsnationalistische MHP Stimmen verlor und nun auf 53 Mandate kommt, ziehen auch 36 formal unabhängige Kandidaten ins Parlament ein. Die meisten von ihnen werden sich zur BDP-Fraktion formieren. Die pro-kurdische Partei hatte die hohe Zehn-Prozent-Hürde für den Einzug ins Parlament umschifft, indem sie unabhängige Bewerber ins Rennen geschickt hat.
78 Frauen, ein Christim künftigen Parlament
So werden auch im nächsten Abgeordnetenhaus vier Fraktionen vertreten sein - und etwas mehr Frauen als zuvor. 78 künftige Parlamentarierinnen zählten türkische Medien, was einen Frauenanteil von rund 14 Prozent ergibt. Bis jetzt waren es lediglich neun Prozent. Ebenso zieht erstmals nach einem halben Jahrhundert ein christlicher Abgeordneter in die Volksvertretung ein. Nach dem vorläufigen Endergebnis schaffte der aramäische Christ Erol Dora als unabhängiger Kandidat in der südostanatolischen Provinz Mardin den Sprung ins Parlament.
Aus Sicht der EU ebnen die Wahlergebnisse "den Weg zur weiteren Stärkung der demokratischen Institutionen der Türkei und zur fortgesetzten Modernisierung des Landes", wie es EU-Ratspräsident Herman Van Rompuy und EU-Kommissionspräsident Jose Manuel Barroso in einem Glückwunschschreiben formulierten. Gleichzeitig forderten sie Erdogan zu weiteren Reformen auf.
Zufrieden über den Ausgang des Urnengangs zeigten sich auch weite Teile der Wirtschaft. Die türkische Lira ging gestärkt aus dem Handel, Investoren frohlockten ob des Sieges der wirtschaftsliberalen AKP. Doch warnte gleichzeitig die Ratingagentur Fitch, dass eine Überhitzung der türkischen Wirtschaft drohe. Außerdem würden die politischen Risiken im Land weiter eine wichtige Rolle bei der Einstufung spielen.
Denn Gewaltakte überschatteten nicht nur den Wahlkampf. So wurden nach dem Votum, bei einer Siegesfeier für kurdische Kandidaten in der südost-anatolischen Provinz Sirnak, nahe der Grenze zum Irak, elf Personen verletzt. Ein Unbekannter hatte eine Handgranate in die Menge geworfen.
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