)
Die Debatte um den Doppelsitz des EU-Parlaments flammt immer wieder neu auf.
Hinweis: Der Inhalt dieser Seite wurde vor 10 Jahren in der Wiener Zeitung veröffentlicht. Hier geht's zu unseren neuen Inhalten.
An manchen Tagen muss Johann so gut wie gar nicht Deutsch reden. Und das, obwohl er in einer deutschen Konditorei tätig ist. Doch es gibt eben Tage, an denen alle Kunden Franzosen sind. Das Geschäft liegt nämlich gleich an der Grenze zu Frankreich, bei Straßburg. Die Nähe nutzen etliche zum grenzüberschreitenden Einkauf: Viele Lebensmittel aber auch Produkte wie Waschmittel oder Kosmetika sind in Deutschland billiger.
Johann selbst fährt zum Arbeiten dorthin. Seine Deutsch-Kenntnisse jedoch kann er oft genug in seiner Stadt, in Straßburg, praktizieren. Dort vermietet er gemeinsam mit seiner Frau ein paar kleine Apartments, und Gäste aus dem Nachbarland finden sich häufig unter den Reisenden. Wie alle Hotels in Straßburg passt der Familienbetrieb seine Preise an die Jahreszeit an: Fast doppelt so teuer als sonst ist es im Dezember, wenn der Weihnachtsmarkt Touristen anzieht. Doch gibt es darüber hinaus in fast jedem Monat eine Woche, die Gelegenheit bietet, die Zimmerpreise ebenfalls hochzuschrauben. Es ist die Plenarsitzung des EU-Parlaments, zu der tausende Menschen anreisen - die Abgeordneten samt ihren Mitarbeitern, EU-Kommissare, andere Politiker, Journalisten.
Doch was der französischen Stadt Profite verschafft, sorgt anderswo für Unmut. Dass die Mandatare an zwei Orten ihre Treffen abhalten müssen, sei eine Zeit- und Geldverschwendung, und die Pendelei trage noch dazu zur Umweltverschmutzung bei, heißt es aus der Volksvertretung selbst. Die Arbeit könnte genauso gut in Brüssel erfolgen, und das würde monatliche Zusatzkosten in der geschätzten Höhe von bis zu 200 Millionen Euro ersparen.
Diese Debatten kennt auch der Vermieter Johann: "Es gibt sie ungefähr alle sechs Monate." Doch er weiß ebenso, dass Frankreich einer Abschaffung des Parlamentssitzes Straßburg zustimmen müsste - und das ist nicht in Sicht.
Dennoch wurde die Forderung danach auch in dieser Woche gestellt, als sich das neu gewählte Abgeordnetenhaus konstituierte. Die Ergebnisse einer Umfrage in sechs Ländern, die Argumente für eine Abschaffung liefern soll, präsentierte die österreichische Grün-Mandatarin Ulrike Lunacek mit ihrem deutschen Kollegen Gerald Häfner. Laut der Forsa-Studie spricht sich eine deutliche Mehrheit der EU-Bürger dafür aus, dass das Parlament künftig an einem einzigen Ort tagen sollte. In Deutschland sind 82 Prozent der Befragten dieser Meinung, und in Frankreich sind es gar 83 Prozent. In Polen etwa ist der Prozentsatz geringer, liegt aber auch noch knapp unter 60. Die meisten Menschen finden allerdings, dass die Regierungen der Mitgliedstaaten über den Arbeitsort der Abgeordneten entscheiden sollten: Dafür plädiert mehr als die Hälfte der Befragten. Ausgerechnet in Frankreich finden sich aber die meisten Befürworter einer Selbstbestimmung des Parlaments: Dort sprechen sich zwei von fünf dafür aus.
Der Franzose Johann sieht die Diskussionen gelassen. Er hat sich schon Alternativen überlegt, sollten die Parlamentsreisenden ausbleiben. In Straßburg sei soeben ein hochmodernes Krankenhaus eröffnet worden. Die Angehörigen der Kranken, die zu Behandlungen aus dem ganzen Land kommen, müssten doch auch irgendwo übernachten.