)
Religionsfreiheit ist ein hohes Gut, und Europa tut gut daran, sich selbst bei der Einhaltung der Menschenrechte - dazu zählt auch die Freiheit in der Ausübung des Glaubens - kritisch auf die Finger zu schauen. Das verlangen wir schließlich auch mit großem rhetorischen Eifer von allen anderen.
Hinweis: Der Inhalt dieser Seite wurde vor 15 Jahren in der Wiener Zeitung veröffentlicht. Hier geht's zu unseren neuen Inhalten.
Inhaltlich sticht der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte mit seinem - wie zu betonen ist - vorläufigen Urteil in ein Wespennest. Europa in Form der Europäischen Union sucht noch immer nach der Klammer, die es in seinem Innersten zusammenhält. Bisher hat man zu diesem Zweck nur den Markt gefunden, den alle teilen. Nur: Auf dessen Fundamenten lässt sich kein Überbau errichten, der die eigene Existenz mit einem Sinn jenseits der Ökonomie versorgt. Die Kämpfe und Krämpfe um den Lissabon-Vertrag oder die Auseinandersetzung um einen Beitritt der Türkei zur Union können durchaus stellvertretend für die Schwierigkeiten stehen, die die EU auf diesem Weg begleiten.
Natürlich sind auch die Religionen mit dieser integrativen Herkulesaufgabe heillos überfordert. Europa ist dafür längst viel zu heterogen geworden. Die Zuwanderung aus islamischen Ländern und die tiefreichende Säkularisierung sind die Motoren hinter dieser Entwicklung. Man mag diese begrüßen oder ablehnen, das ändert aber nichts an ihrem Tatsachengehalt. Mitten in diese höchst herausfordernde Gegenwart für die Zukunft Europa platzen nun die Straßburger Richter mit ihrem Kruzifix-Urteil. Und im Handumdrehen findet sich die Union in einem leidenschaftlichen Kulturkampf wieder.
Cui bono, wem nützt es? Den Millionen von nicht-integrierten Muslimen? Deren Hauptsorgen sind wohl andere, nämlich vorwiegend sozialer und ökonomischer Natur. Das zeigt übrigens auch das Verhalten der Islamischen Glaubensgemeinschaft, die sich beim jüngsten Kruzifix-Streit in Linz gegen eine Verbannung des Kreuzes aus Klassenzimmern ausgesprochen hat.
Sehr viel eher entspringt das Urteil der Richter der grundsätzlichen Sorge unserer Moderne vor den gesellschaftspolitischen Folgen einer Rückkehr der Religionen. Tatsächlich gibt es fast überall Fundamentalisten, die die Errungenschaften der Aufklärung in der Auseinandersetzung mit der Religion wieder zurückschrauben wollen. Solchen Tendenzen - man denke nur an die Auseinandersetzung rund um die Evolutionstheorie - gilt es wachsam zu begegnen.
Ob sich zu diesem Zweck allerdings das Kreuz in den Klassenzimmern eignet, kann getrost hinterfragt werden. Nicht wenige wird das Gefühl beschleichen, "die da oben" - sei es Brüssel oder in diesem Fall eben Straßburg - wollen ihr Lebensmodell von oben herab allen anderen oktroyieren. Das weckt bekanntlich vor allem eines: Widerstandsgeist.
Siehe auch:Es weht ein Hauch von Kulturkampf