Der 1. Oktober sollte nach den Wünschen der chinesischen Führung ganz im Zeichen der Ausrufung der Volksrepublik vor 70 Jahren stehen. Doch während in Peking die Soldaten im Stechschritt defilierten, eskalierte die Lage in Hongkong.
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Als sich die ersten Protestzüge in Bewegung setzen, haben wohl auch die meisten Teilnehmer noch keine genau Vorstellung davon, wie der Tag zu Ende gehen wird. Friedlich marschieren tausende zumeist schwarz gekleidete Menschen durch die Straßen der früheren britischen Kronkolonie, die sich mit einem Großaufgebot an Bereitschaftspolizisten und Sondereinsatzkräften für die von der der Stadtverwaltung nicht genehmigten Demonstrationen gerüstet hat. Die Protestteilnehmer, die den Verlust ihrer bisherigen Sonderrechte fürchten, skandieren: "Freiheit für Hongkong", und nachdem sich immer mehr Menschen anschließen, wird auch die Hymne der Demokratiebewegung angestimmt.
Doch bereits nach wenigen Stunden gleichen große Teile des Hongkonger Stadtzentrums einem Schlachtfeld. Aktivisten blockieren Straßen, werfen Brandsätze und liefern sich Straßenschlachten mit Polizeikräften, die diesmal nicht nur mit Tränengas und Wasserwerfern reagieren. So wird einem 18-Jährigen von einem Polizisten aus nächster Nähe in die Schulter geschossen. Ein zweiter Demonstrant soll von einer Kugel in die Brust getroffen worden sein.
Es sind Szenen und Bilder, die die Führung in Peking vor allem an diesem Tag unbedingt vermeiden wollte. Denn der 1. Oktober sollte nach den Wünschen von Präsident und KP-Chef Xi Jinping ganz und ausschließlich im Zeichen der Ausrufung der Volksrepublik China durch Mao Zedong vor 70 Jahren stehen. Und für die großen Feierlichkeiten zum Gründungsjubiläum hat China auch alle Register gezogen. Bei der zweistündigen, live im Fernsehen übertragenen Militärparade in Peking marschieren rund 15.000 Soldaten im Stechschritt an den versammelten Parteikadern vorbei, die Volksbefreiungsarmee zeigt beeindruckende neue Waffensysteme wie eine 21 Meter lange Interkontinentalrakete oder einen supermodernen Hyperschallgleiter, der auch in der Lage ist, die hochgerüstete US-Luftabwehrsysteme zu überwinden.
Rütteln an der Allmacht
Doch der große geopolitische Rivale USA, den Xi mit der militärischen Machtdemonstration ganz offensichtlich beeindrucken wollte, rückt an diesem Tag aus dem Blick. Denn mittlerweile sind es nicht mehr die erbittert ausgefochtenen Handelsstreitigkeiten mit den USA oder der Kampf um die Vorherrschaft im Pazifikraum, die für Xi die größte Herausforderung seiner mittlerweile siebenjährigen Amtszeit darstellen, sondern die Proteste in Hongkong.
So rütteln die nun schon seit Monaten andauernden Demonstrationen in der 1997 an China übergebenen Sonderverwaltungszone nicht nur am Allmachtsanspruch der Führung in Peking, sondern stellen zunehmend auch jene Problemlösungskompetenz in Frage, die für die Partei in der Vergangenheit zu einer immer wichtigeren Legitimationsbasis geworden ist. Wann immer die Parteiführung ihren Machtanspruch bedroht sehe, greife sie zu Überwachung und Unterdrückung, sagt Kristin Shi-Kupfer vom Berliner China-Institut Merics. "Die jungen Menschen in Hongkong wollen sich aber nicht alles aufzwingen lassen. Sie wollen mitreden, wenn es um ihre Zukunft geht."
Bei seiner Rede am symbolträchtigen Tiananmen-Tor wendet sich der chinesische Staatschef daher auch explizit an die Menschen in Hongkong und sichert ihnen zu, auch weiterhin am Prinzip "Ein Land, zwei Systeme" festzuhalten. Gleichzeitig sendet Xi an diesem Tag aber auch ein eindeutiges Signal in Richtung der Demonstranten. "Keine Kraft kann die Grundfeste dieser großartigen Nation erschüttern", erklärt der Präsident in seiner Rede. Für die entsprechende Drohkulisse hat Xi dabei schon vor einigen Tagen gesorgt. So ist mit der letzten Truppenrotation die Zahl der chinesischen Militärangehörigen in Hongkong von 5000 auf 12.000 gestiegen.(rs)